Szenarien mit Benzingeruch

■ Eine Studie des Mineralölkonzerns Shell über Prognosen des PKW-Bestands im Europa des Jahres 2010 sieht für die Zukunft viele, viele Autos über den Asphalt der alten Welt rollen. Der Verdacht liegt nahe, daß...

Eine Studie des Mineralölkonzerns Shell über Prognosen

des PKW-Bestands im Europa des Jahres 2010 sieht für die Zukunft

viele, viele Autos über den Asphalt der alten Welt rollen.

Der Verdacht liegt nahe, daß es sich bei den Prämissen

durchaus um ein Wunschbild handelt.

VON THOMAS WORM

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on diesen Leuten dürfte man getrost auch mal einen Kanister Altöl kaufen. Die Shell AG hat sich selber ein Vertrauenszeugnis ausgestellt, und zwar über ihr jüngstes Szenario zum PKW-Bestand im Jahr 2010. Szenarien, heißt es da, „sind wertfreie, in sich selbst geschlossene Zukunftsbilder. In diesem Sinne sind sie auch nicht ,gut‘ oder ,schlecht‘“. Die zwei verschiedenen Entwicklungsalternativen in der Shell-Studie sind denn auch ganz neutral mit „Europa im Wandel“ und „EG als Block“ betitelt. Oder läßt sich etwa doch erraten, bei welcher Variante der Benzinverbrauch deutlich höher liegt? Jedenfalls ist ein Mitverfasser der Studie der Meinung, Shell habe hier den Versuch unternommen, alle „möglichen Zukunftswelten“ abzubilden.

In diesen beiden Zukunftswelten — weitere soll es nicht geben — werden in 20 Jahren entweder zehn Millionen Privatautos („Europa im Wandel“), oder auf jeden Fall fünf Millionen mehr („EG als Block“) als gegenwärtig auf Deutschlands Straßen stehen, stop-and-go-fahren oder auf der Lichthupenspur Gas geben. Was das heißt, verdeutlicht ein Blick auf die benzinfreundlichere Variante 1 „Europa im Wandel“: Binnen zweier Jahrzehnte werden im Durchschnitt sieben von zehn deutschen Erwachsenen ein Auto ihr eigen nennen. Genug lackiertes Metall, um 46 Millionen Parkplätze damit zu schmücken. Wer also nicht Sozialhilfe bezieht, nicht im Rollstuhl fährt oder blind ist, wird sich — so Shell will — 2010 im vierrädrigen Blechmantel fortbewegen. Bei alledem hält das Shell-Szenario eine wohltuende Message parat: Der Ausstoß des Treibhausgases CO2 aus den Auspüffen der „bewegungsfreien“ Gesellschaft sinkt in jeder der beiden Zukunftswelten, einmal um 15 Prozent und in der rigiden Block-EG sogar um 50 Prozent. Das jedenfalls scheint runterzugehen wie Öl.

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Nun aber ist — zumindest für den größten Ölmulti der Erde — die bewegungsfreie Gesellschaft in erster Linie eine spritbezogene Gesellschaft, denn die Einnahmen sollen ja weiterhin fließen. Um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, muß in der Konzernstrategie der schlimmste Fall durchgespielt werden: Der Autowahn läßt nach, der Benzinabsatz sackt rapide ab. Andererseits ist das Gegenteil davon zu betrachten, die bestmögliche Entwicklung für Shell, die deshalb am ehesten den Namen Wunschbild verdient. Mit Recht mag man daran zweifeln, ob Shell diese Himmel-Hölle-Prognosen für den hausinternen Gebrauch der Öffentlichkeit vorlegen wird. Die hat sich vielmehr an das farbaufwendige Szenario 2010 zu halten. „Und mit Szenarien macht man Politik“, sagt Markus Hesse, Verkehrsspezialist vom Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW).

Wie das vor sich geht, sei anhand eines Beispiels aus der Shell-Studie illustriert. In der positiv besetzten Szenario-Variante 1 „Europa im Wandel“, die durch Prosperität, „Umweltbewußtsein, globales Handeln und marktkonforme Innovationen“ gekennzeichnet ist, kommt es zu einer „spürbaren Verbesserung der Verkehrsnetze“, unter anderem durch neue Leitsysteme zur Stauvermeidung. Im Gegensatz dazu ist bei der mit Negativassoziationen belegten Variante zwei „EG als Block“ von ausgebauten Verkehrsnetzen, etwa der Bahn, überhaupt gar keine Rede. Die nicht wegzuleugnende Dämpfung des Auto-Booms im „Block-Modell“ wird vor allem einem „dirigistischen“ Umweltschutz zugeschoben, der mit Zufahrtsbeschränkungen und Sonderrechten für emissionsarme Fahrzeuge hantiert. Block versus Wandel. Fast wie von selbst formen die Lippen beim Lesen die Botschaft: viel Auto — viel Freiheit.

Wer versucht ist, an simple Manipulationen zu glauben, dem hält IÖW-Forscher Hesse eine wesentlich fundamentalere Kritik am PKW- Bestands-Szenario entgegen. In der Vergangenheit sei die künftige Anzahl der Privatautomobile stets unterschätzt worden, das gelte insbesondere für frühere Shell-Studien. Die auf uns zurollenden Probleme habe man deshalb keineswegs rechtzeitig erkannt. Mittlerweile, so Hesse, sei es weitaus schwieriger geworden, „Vorhersagen im Sinne von Wahrscheinlichkeitsprognosen über einen Zeitraum von 10, 15 oder 20 Jahren zu machen“. Dafür gebe es in der Gegenwart zu viele Entwicklungsbrüche und -sprünge. Den Bevölkerungszuwachs in Deutschland etwa, von elementarem Einfluß für Autowünsche von morgen, könne man allein schon wegen der Migrationsbewegung nur unsicher vorhersehen (Shell geht von einem geringen Bevölkerungsanstieg aus). Wir leben in einer Gesellschaft, die sich ihrer undeutlichen Zukunft zunehmend durch Prognosen vergewissert. Auch der Multi mit der Muschel weiß das. Die Szenario- Kultur nimmt das Künftige mit der Vergangenheit in Beschlag, leitet ab, schreibt fort und überlegt nichts einschneidend neu. Wo etwa ist das Szenario zu künftigen PKW-Beständen, worin die durch Umfragen verbürgte Bevölkerungsmehrheit der Minderheit von autofahrenden Männern im Alter zwischen 20 und 55 ihr Plazet entzieht, jenen Metallic-Machertypen, die in Parlamenten, Behörden und Unternehmen an entscheidender Stelle den automobilen Infarkt betreiben? Und wo findet sich die Prognose, welche den Begriff der Konversion ebenfalls auf sämtliche autoabhängige Industrien ausdehnt, damit das Sozialprodukt nicht in erster Linie von Karossenbau, Benzinverbrauch und neuen Straßen abhängt, und es somit der Shell auch nicht mehr erlaubt, weniger Auto mit mehr Wirtschaftskrise gleichzusetzen?

Also alles nur tendenziöser Unsinn? Nicht ganz. „Seriös wäre es“, schlägt Markus Hesse vom IÖW vor, „wenn einerseits in ein Rahmenszenario und andererseits in ein Gestaltungsszenario unterschieden würde.“ Dann ließe sich ehrlicher sagen, welche Handlungsalternativen den Akteuren unter diversen politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen zur Verfügung stehen. Dabei könnten dann Zukunftsbilder herauskommen, die eben den eigenen Wunschbildern entsprechen. Eines wäre dies gewiß nicht: wertfrei. Aber alle könnten es wissen.

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on diesen Leuten dürfte man getrost auch mal einen Kanister Altöl kaufen. Die Shell AG hat sich selber ein Vertrauenszeugnis

SHELL-STUDIE