Wahnsinn Auto oder: Der erste Kuß im Opel

■ Eine Kulturkritik des Massenverkehrs

Eine Kulturkritik des Massenverkehrs VON REINHARD MOHR

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as einfachste Experiment über die Wahrheit des Automobils kann jeder selbst unternehmen: Das Fahrzeug in eine Garage stellen, das Tor schließen und den Motor anlassen. Da der Ausgang dieser Versuchsanordnung aus Film und Fernsehen bekannt ist, lautet die entscheidende Frage: Warum gilt das Auto — in der Bundesrepublik etwa 33 Millionen mal (zuzüglich acht Millionen Lastkraftwagen) — nicht längst als gemeingefährliche Mordwaffe, die ebenso strenger Kontrolle unterläge wie Arsen, Flammenwerfer oder Giftgasgranaten? Die Antwort gibt die Ford-Werbung: „Soviel Auto braucht der Mensch.“ Und davon immer mehr. Denn Motorisierung ist Demokratisierung.

Wie kein anderes Produkt der Industriegesellschaft markiert das Auto den Zusammenprall von Individuum und Masse, von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Anonymität. Der „homo blech“ (Heinrich Pachl) als vorläufig letzte Version des homo sapiens repräsentiert so die wichtigsten Eigenschaften der Moderne: Schock, Geschwindigkeit, Mobilität und Masse. In einem Wort: Fortschritt. Das sich selbst bewegende Auto-Mobil erfüllte von Anfang an Allmachts- und Freiheitsphantasien, die Sehnsucht nach physischer Unabhängigkeit und Souveränität über die Raum/Zeit-Relation. Anders als bei der die Pferdekutsche revolutionierenden Eisenbahn bestimmt der Autofahrer selbst, welche Landschaften an ihm vorbeirauschen, wo er anhalten und wo er die Fahrt beschleunigen will. „Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze“ — so beschrieb Robert Musil einen schönen Augusttag des Jahres 1913. Fünfzig Jahre später rollten zigtausende VW-Käfer nach Tirol und an die Adria, durch Frankreich an die Costa Brava, um sich den ganz persönlichen Platz an der Sonne zu sichern. „Autowandern“ wurde zum Begriff. Wälder, Täler und Berge schienen wie geschaffen für die Wagenlenker, denen von Jahr zu Jahr neue Asphaltbänder vor die Profilreifen gelegt wurden. Das Auto eroberte die verbliebene Restnatur in Europa und Amerika ein letztes Mal und wurde so zum Kulturträger einer Zivilisation, in der eine Spritztour von Köln an den Comer See in sieben Stunden als neue, rekordverdächtige Grenzverschiebung menschlicher Möglichkeiten verstanden werden konnte.

Die Autokultur durchbrach auch innere Grenzen. Als eigentümlicher Ort sozialer Kommunikation hat das Auto unzählige Lebensschicksale geprägt. Wieviele Liebesbeziehungen nahmen hinter beschlagenen Fenstern und bei laufendem Motor ihren Anfang, als die feine Abstufung zwischen Leerlauf, angezogener Handbremse und der signifikanten Linksdrehung des Zündschlüssels die Perspektive einer gemeinsamen Nacht eröffnete? Wieviele Urlaubsabenteuer im selbst umgebauten VW-Bus, wieviele Gespräche mit Trampern fremder Länder, wieviele klärende Aussprachen, geschäftliche Besprechungen und einsame Reflexionen am Steuer wären nie gewesen, hätte man die zivilisierte Welt komplett in die Zugabteile der Deutschen Bundebahn oder auf die Fahrradsitze à la chinois gezwungen?

Heute, am Ende der „long winding road“, steht der glücklich verheiratete Autofahrer neben der ledigen Autofahrerin auf der Mittelspur im Stau und muß sich auch noch sagen lassen, er selbst sei daran schuld. Das automobile Glücksversprechen hat sich in ein Verkehrsproblem verwandelt, aus dem auch Überrollbügel, Extrabreitreifen und Frontspoiler kein Entkommen mehr garantieren. Nächtliche Autorennen in Essen oder Duisburg sind ebenso wie der Opel-Manta-Kult und der präapokalyptische Boom der Jeeps und Geländewagen — Überleben ist alles — letzte Reminiszenzen an jene Zeiten, da ein amerikanischer Chevy oder Cadillac sich noch einsam wie ein Wolf und majestätisch wie ein Luxusliner (oder pfeilschnell wie Steve McQueens Rennwagen in Bullit), auf jeden Fall aber frei bewegen konnte.

So ist der Stau zur letzten Zuflucht früherer Freiheit, zum dialektischen Bild des Stillstands (Benjamin) geworden, in dem Vergangenes und Zukünftiges in einer „profanen Erleuchtung“ zusammenschießt. „Die Benutzung des Autos ist irrational geworden“, sagt selbst der ex-gaullistische Oberbürgermeister von Lyon, Michel Noir, aber, wer etwa durch Frankreich fährt, sieht überall, wie mit aller Macht und viel Geld (82 Millionen Francs von 1989 bis 1993) Straßen verbreitert und neu gebaut werden, um das Ende der Sackgasse noch ein Stück hinauszuschieben.

Während längst viele französische Städte mit künstlichen Bodenschwellen, Fahrbahnverengungen und martialischen Hinweisen — „Denken Sie an unsere Kinder!“ — die mörderische Autoflut wenigstens zu kanalisieren versuchen, signalisieren nicht nur die zusätzlich geplanten 3.000 Kilometer Autobahn, daß „Leben wie Gott in Frankreich“ ohne Überholspur und ausgebaute Seitenstreifen auch heute noch undenkbar ist. Bevor die französischen Autobahnbauer freilich die deutschen überholt haben werden, wird in der Bunderepublik selbst der ADAC-Engel der Straßenverkehrsgeschichte kein Durchkommen mehr finden.

Schon jetzt ähnelt der Konsens über das Umweltproblem Nummer eins namens Autoverkehr (91 Prozent der Bevölkerung) und die Notwendigkeit seiner drastischen Reduzierung (85 Prozent) der Volksmeinung über Erich Honecker oder AIDS, aber wenn es an die Konsequenzen geht, stürzt sich der Deutsche immer noch lieber in den nächstbesten Berufsverkehrsstau als die neueste „Greenpeace“-Wahrheit zu entdecken: „Freiheit geht zu Fuß.“

Alle Öko- und Kulturkritik am ausufernden Massenverkehr der 40 Millionen tollen Kisten hat bisher nicht den Ursprung — und damit den Zielkonflikt — des motorisierten Massenphänomens aufheben können. Am Anfang wie am möglichen Ende der modernen Autogesellschaft steht die Demokratisierung eines Privilegs, die Verallgemeinerung eines Minderheitenrechts, das Versprechen von Glück und Freiheit für alle — vom ABS-System bis zum serienmäßigen „Airbag“. Millionen an der Fahrertür herunterbaumelnde, vornehmlich männlich behaarte Unterarme zeigen zumindest im Sommerhalbjahr die Entschlossenheit der Autofahrer, ihre vier bis fünf Quadratmeter private Freiheit erbittert zu verteidigen — auch gegen ihre eigene, öffentlich geäußerte Vernunft.

Der Kampf wird langwierig und hart sein. Denn trotz der ständig eskalierenden Verkehrsmeldungen in den Servicewellen des Hörfunks, die wie ein EKG den endemischen Verkehrsinfarkt anzeigen, will der bleifrei tankende Normalverbraucher gar nicht wissen, daß die Fahrt von Rodgau 7 nach Frankfurt-Bockenheim mit der S-Bahn 33mal umweltfreundlicher ist als mit dem VW Golf, wenn es draußen regnet oder schneit und drinnen die lammfellummantelte Stereoanlage mit Unterstützung der „Scorpions“ die Bitterkeit des Montagmorgens mildert. Solange die Mehrheit öffentlicher Verkehrsmittel immer noch die Aura von Sozialstation und Bedürfnisanstalt ausstrahlt, wird das Auto Inbegriff des letzten autonomen Refugiums bleiben und der Geschmack von Freiheit und Abenteuer noch im unförmigsten „Hymermobil“ am Edersee eine fünf Tonnen schwere Heimstatt finden.

Jenseits aller (Film-)Fiktionen, Off-Road-Mythen und Caravan-Träume ist das Auto mehr als eine Droge des „Männlichkeitswahns“, der den Planeten zerstört. Wer dem Wahnsinn des motorisierten Massenverkehrs mit Vernunft beikommen will, muß sich neben allen ökologischen, ökonomischen und logistischen Problemen auch mit dem freiheitlichen Kern des Autos beschäftigen, das selbst heute noch Millionen von Menschen ein Maß an — zugegeben: häufig bloß eingebildeter — Unabhängigkeit gewährt, mit dem kein anderes Verkehrsmittel konkurrieren kann.

Die unabdingbaren, drastischen Einschränkungen dieser grenzenlosen Mobilität, an denen in Zukunft kein Weg, auch nicht die schönste Umgehungsstraße vorbeiführen wird, müssen die überschießenden, durchaus unökologischen und zuweilen irrationalen Bedürfnisse der Menschen einkalkulieren.

Niemand weiß, wieviel Auto der Mensch wirklich braucht. Doch jede ökologisch „vernetzte“ Gesamtkonzeption aller Verkehrsmittel wird sich mit dem Verhältnis von individueller Freiheit und allgemeiner — nicht nur ökologischer — Vernunft auseinanderzusetzen haben. Wer diesen Konflikt ignoriert, kann nur auf vormoderne Lösungen setzen: bürokratisch- hilflose Gewaltakte oder jenes vermeintlich „sanfte“ System globaler Selbststeuerung, in dem das Subjekt sowieso nicht mehr vorgesehen ist.

FOTO: STEFAN SCHULZ/JOKER

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