Dresden, hin und zurück

Eine „Lulu“ — erstmals an der Semper-Oper — mit Problemen im Umfeld  ■ Von Frieder Reininghaus

Von Wien kommend, ging der Flug nach Tegel über Frankfurt. Es geht auch anders, aber so war es für die Lufthansa wohl günstiger. In Berlin hatte sich die Uraufführung einer Oper über die Stadt angekündigt, das erste bemerkenswerte Musiktheaterereignis nach und zu dem Wenden und Winden im Osten. Dramaturg Müller, so erfuhr man, hatte die Antigone des Sophokles im Herbst der lauter werdenden Klopfzeichen und der Implosion seines Staates für den Komponisten Katzer bearbeitet; dieser setzte im ereignisreichen Jahr Neunzig seine kratzbürstige Musik dazu.

Nun also lud die Komische Oper, die den schönscheußlich ausgestatteten Schavernoch für das Bühnenbild engagiert hatte. Hausregisseur Harry inszenierte. Und Counter Kowalski sollte den blinden Seher Teiresias krähen, die Inkarnation des Intellektuellen im Pygmäenland. Genau das aber tat er erst einmal nicht. Schon beim Einbiegen in die Behrenstraße empfing die Ankömmlinge Lautsprechergeplärr. Wie in asiatischen Städten, in denen geistliche oder weltliche Machthaber den Untertanen auf dem Luftweg ihr Wissen und Wollen kundtun.

Der Torwart bestätigte, was bereits zu argwöhnen war: Nächsten Freitag, hieß es. Gewiß, es mag vorkommen, daß sich bei einem Sänger partout der Frosch im Hals nicht löst. Ein wenig frühzeitiger freilich hätte die traurige Mitteilung bekanntgegeben werden können. So fuhr man gegebenenfalls vergeblich nach Berlin, jedoch keineswegs umsonst. „Macht doch nichts“, tröstete eine meiner Neumitbürgerinnen, „das zahlt doch Ihre Firma.“ Klar doch, sie muß es wissen.

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Also nach Dresden, die zweite Wahl dieses Wochenendes. Gegeben wurde Alban Bergs Lulu, und zum allerersten Mal an der Semper-Oper. Bislang durfte diese Oper, die zu den wichtigsten Kunstwerken des 20.Jahrhunderts zählt, dem konservativen Opern-Dresden nicht zugemutet werden. Heikel genug: Das Werk gilt der „Urgestalt des Weibes“. Lulu wird in der Manege geboren, aus einer Kiste. Noch ist sie ganz und gar keine Schlange, die hübsch biedere Maria Husmann, die im Pierrot-Kostüm dem Dunkel des Vorlebens entsteigt; dazu wird sie erst durch die Männerwelt gemacht, welche sie aufmischt und abkassiert. Lulu muß Opfer und Täterin zugleich sein. Die ernsthafte Inszenierung ihrer Geschichte und Gegenwart könnte in Dresden derzeit hohe Brisanz gewinnen.

Hereinspaziert sodann. Friedemann Layer leitete diesmal die Staatskapelle — ein Dirigent, der sich mit Mozart Meriten erwarb, als Generalmusikdirektor in Mannheim irgendwann einmal überflüssig wurde. Nun vermehrt er die Männerschar, die im Neuland ihr Glück versucht beziehungsweise von einem neuen West-Chef dort als Prellbock eingesetzt wird. Der renommierte Klangkörper an der Oberelbe hatte hörbar Mühe mit dem Notentext. Der erste Akt klang wie vom Blatt gegeigt. Das von Alban Berg geforderte Expressivo wollte kaum erblühen. Erst die ausladenden Zwischenspiele deuteten an, daß die Herren des vormalig sozialistischen Staatsbetriebs die Arbeit durchaus nicht verweigern wollten, daß es aber an Sachverstand mangelte.

Lulu, meine Herren im Orchestergraben, entäußert große dramatische Musik. Sie atmet herb-süßes erotisches Aroma und zeigt scharfe Krallen. Solche Härte korrespondiert dem verhandelten Stoff. Berg schuf eine Tonkunst im Reizklima der Dekadenz, welches darzustellen die feinste Delikatesse verlangt. Auch wenn Ihr, Musiker in bester Tradition, werktags von Sinopoli im Dienst der glatten Oberflächen gebügelt und für seine Spreizübungen aufgepumpt werdet: dieser Sonntagsmusik solltet Ihr Aufmerksamkeit, Liebe, Steigerung des technischen Könnens widmen. Billiger kann es bei solcher Kunst der Begierden nicht gehen. Ihr, die Ihr eintretet in den Erdgeist dieser Musik, laßt alle Grobschlächtigkeit und falsche Hemmung fahren. Nur wenn sie ein Äußerstes wagt, kann die Interpretation der Lulu gelingen.

Christoph Albrecht, vordem in Hamburg beim Ballett beschäftigt, war in der vergangenen Spielzeit interimistisch und ist jetzt in vollem Umfang Semper-Opernintendant. Größer ist er nicht geworden und wird es wohl auch nicht: ausgesucht farblos. Albrecht schickte Fred Berndt auf den Weg der Visualisierung des Trieblebens der Klänge. Berndt, einen nicht eben profilierten Ausstatter, der auch schon Regie geführt hat. Taz-Lesern mag dieser C- Klassen-Spielleiter durch eine Inszenierung von Thomas Bernhards Theatermacher in Köln zum Ende der Dienstzeit des Direktors Pierfoß in Erinnerung geblieben sein: Da führte der nette Herr Berndt vor Augen, wie dicht einst vielgerühmte Theaterstädte bei Thomas Bernhards „Utzbach“ liegen.

Fred vertraute auf das Naheliegende und Gängigste für die Dresdner Lulu. Wieder einmal Gitterstäbe um eine Manege, deren Rund sämtliche Szenen zusammenzwingt; deren Geschlossenheit alle Bilder bestimmt. Die Arena bleibt Arena auch mit den Sesseln des herzanfälligen Medizinalrats, mit den Utensilien des im Bade verblutenden Kunstmalers, mit den Design-Möbeln des Chefdirektors Dr.Schön, der im Blutbad auf der Couch seine letzte Lust an seiner Lulu hat. Von dannen er freilich wiederkommt als Jack the Ripper, zu richten die Überlebende und im Herzen doch schon Tote. Im magischen Kreis, der alle zwingen soll, der gleichwohl in Dresden optisch nicht zwingend geriet, wird das kalte Buffet für die Pariser Halbwelt aufgetragen, die sich um den Besitzer der „Jungrau“-Aktien schart; in ihm wird das Elend des Londoner Nuttenviertels angedeutet und der Schön-Sohn Alwa beiläufig abgeräumt. Freier Jack alias Theo Adam macht seine Sache bemerkenswert gut (stimmlich wie handwerklich): Hinter dem hängenden Laken, auf dem sich die Schatten abzeichnen, schlachtet er Lulu, und dann erlöst er die Gräfin Geschwitz, die gerade nach Deutschland zurückkehren und sich immatrikulieren wollte, auch aus dem Elend.

Das aber grassiert in den Kehlen des Ensembles. Maria Husmanns Stimme ist alles andere als berückend. So kam zu unzureichendem Orchesterklang und ordinärer Ausstattung für eine profillose Inszenierung die insgesamt unbefriedigende Sängerleistung — alles zusammen nicht eben ein ideales Startsignal für eine neue Ära an einem der Opernhäuser, das zu den besten in Deutschland gehören könnte und müßte. Selbst in diesem stockkonservativen Opern-Dresden gibt es keine Garantie dafür, daß die Kunden auf Dauer nur „bewährte Modelle“ sehen möchten und mediokre Musikleistungen goutieren — und die Leute von auswärts wollen, wenn sie sich an der Schönheit des Gehäuses sattgesehen haben, Qualität geboten bekommen. Und das heißt auf dem Theater stets (und unerbittlich): neue Qualität.

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Es fügte sich günstig, die Radio-Berichte über Lulu auf der Rückfährt bei DS/Kultur aufzunehmen — das in Verwesung übergehende Gelände des ehemaligen DDR-Radios in Berlin-Oberschöneweide liegt am Weg. Die Leitungstermine waren frühzeitig per Fernschreiben reserviert worden, per Fax nochmals bestätigt. Die betreuende Musikredakteurin war außerordentlich freundlich und ich durfte bester Hoffnung sein. Doch bei allen vier ARD-Anstalten, die im Westen etwas senden wollten, kam nichts an. Der Reporter sei gar nicht dagewesen, ließ die Verwaltung verlauten; aber mit ein oder zwei Tagen Verspätung kabelten die Leute des Ost-Senders die offensichtlich von einem Phantom aufgesagten Kommentare doch noch in alle Himmelsrichtungen. Unklar, ob sie nicht wollen oder nicht können, was in Europa ansonsten zum kleinen Einmaleins des Radioalltags gehört.