Jedes Kind zum Lächeln bringen

Die erste Biographie Keith Harings liegt endlich vor  ■ Von Stefan Koldehoff

Als der Maler wußte, daß es mit ihm zu Ende gehen würde, verließ er sein Studio am New Yorker Broadway 676, um noch einmal durch die Welt zu ziehen. Sein letztes Bild im Atelier entstand 1989. Auf orangefarbenem Grund zeigt es achtmal die blauen Umrisse jenes gesichts- und geschlechtslosen, aber dennoch menschlichen Graffito-Wesens, das den Künstler seit Beginn der achtziger Jahre vor allem in Europa und in Japan berühmt gemacht hatte. Beide Arme weit von sich gestreckt, erinnert es an den Gekreuzigten. Wie parallele Blutspuren überziehen unzählige Farbtropfspuren die 183 mal 183 Zentimeter messende Leinwand. Keith Haring wußte seit langem, daß er sich mit dem todbringenden HIV-Virus infiziert haben mußte. Im Herst 1988 hatte eine Gewebeuntersuchung bei dem Künstler, der sich offensiv zu seiner Homosexualität bekannte, außerdem die Ausbreitung des Karposi-Sarkoms bestätigt. „Ich bin rüber an den East River, stand am Ufer der Lower East Side und habe bloß noch geheult“, berichtete Haring seinem Biographen John Gruen, „aber dann muß man sich zusammenreißen, denn das Leben geht weiter.“

Für den damals gerade dreißigjährigen Pop-Artisten bedeutete Leben vor allem Arbeit, in den letzten anderthalb Jahren seines Lebens mehr denn je. Die Liste seiner Aktivitäten zwischen 1988 und dem Tod Anfang 1990 liest sich wie der Veranstaltungskalender der Internationalen Vereinigung der Kulturinstitute: Zwischen der Eröffnung von Harings „Pop-Shop“ in Tokio und der Fertigstellung eines Wandbildes für die Entbindungsstation der Fürstin- Gracia-Klinik in Monte Carlo liegen rund 30 große Projekte in Europa und Amerika. Haring jettete mit seiner Entourage von Termin zu Termin, von Interview zu Interview, und konnte und wollte doch seine Krankheit nicht vergessen. Zeitweise glaubte und hoffte der schlaksige Brillenträger, mit Hilfe der Medikamente AZT, Interferon und IZT wenigstens die Ausbreitung des Virus im Körper verhindern zu können, um sein gewohntes Leben weiterzuführen; obwohl aber noch Anfang 1989 eines seiner Wandbilder im Barrio Chino von Barcelona hoffnungsvoll Together We Can Stop Aids verkündet hatte, wußte Haring selbst, daß sein Kampf aussichtslos war.

Seit seinem Tod sind die Preise für Harings Zeichnungen, Acrylgemälde und Grafiken wie für die über zwei eigene Pop-Shops in New York und Tokio vertriebenen Multiples in astronomische Höhen geklettert. Eine von der Heidelberger Galerie Klaus Staeck halb illegal vertriebene Armbanduhr zur deutschen Wiedervereinigung mit dem Signet „BRDDR — Open 24 hours“ wurde seinerzeit ohne Wissen des Haring Estate für 85 Mark angeboten. Heute kostet der schwarz-rot-goldene Zeitmesser mindestens das Zehnfache. An eine Biographie, einen umfangreicheren Werkkatalog oder eine andere umfassende publizistische Würdigung von Leben und Werk Keith Harings allerdings wagte sich aus gutem Grund bislang kein deutscher Verlag heran: Der „Estate of Keith Haring“ und die „Keith Haring Foundation“ in New York hüten die Reproduktionsrechte an Werken und Worten des Verstorbenen wie den Gral. Erst jetzt erschien die erste autorisierte Biographie. Zusammengestellt hat das opulent bebilderte Werk der New Yorker Kulturjournalist John Gruen (seine Tochter Julia leitet Nachlaßverwaltung und Stiftung).

In akribischer Kleinarbeit hatte Gruen schon Mitte der achtziger Jahre begonnen, Interviews mit mehr als 50 Verwandten, Freunden, Kollegen, Galeristen und vor allem mit Keith Haring selbst zu führen. Chronologisch und unkommentiert aneinandergefügt, ergeben diese Originalzitate ein so umfassendes und vielschichtiges Portrait des Künstlers als jungem Sterbenden, wie es keine klassische Biographie hätte vermitteln können. Wo Haring selbst über seine erste große Einzelausstellung in der Galerie Shafrazi berichtet, folgen Statements seines Galeristen, von Freunden, die über Harings kindliche Begeisterung berichten, aber auch von Kritikern, die seine domestizierten Graffiti durchaus kritisch beurteilten. Gruens Biographie schafft so, was wenigen anderen Biographien wirklich gelungen ist: Sie nähert sich ihrem Gegenstand so objektiv wie möglich und überläßt den Lesern, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

Auf diese Weise mit Haring und seinen Ideen bekanntgemacht, wird durch sie auch plötzlich verständlich, wie sich der enorme Erfolg des Bürgersohns aus der amerikanischen Provinz erklären läßt. Keith Haring gab den künstlerischen Ausdrucksformen der kommerziellen Pop-Art eine moralische Dimension, ohne dabei selbst unkommerziell zu sein. Seine Graffiti, zunächst in der New Yorker Subway, dann an der Kunsthochschule und schließlich im eigenen Atelier entstanden und weltweit vermarktet, entwickelten sich aus der zynischen Zivilisations- und Konsumkritik von Andy Warhol oder Claes Oldenburg. Aber Haring nahm eine andere Wendung. Seine Strichmännchen und Symbole, die „tags“, hatten große rote Herzen, stellten sich gegen die Gewalt und forderten in ihrer eigenen Formensprache, die jedes Kind verstehen konnte, Menschlichkeit und Phantasie ein. Sie selbst waren in der Phantasie jenes kindgebliebenen US-Kids Keith Haring entstanden, das selbst bei der Verleihung des Titels „Chevalier de l'Ordre du Mérite Culturel“ auf die Nike-Baseballstiefel zum Armani-Anzug nicht verzichten mochte und sich bei Prinzessin Caroline nach der Überreichung des Ordens mit Wangenkuß bedankte.

Nicht von ungefähr hatte Keith Haring als Inbegriff des unverdorben Kreativen ein kniendes Strahlenbaby als Markenzeichen gewählt. Das Bemalen von Kirchen, Krankenstationen und Kindergärten war für ihn deshalb mehr als eine lukrative Pflichtübung. Seinem Biographen hatte er erzählt: „Was mir an Kindern so gefällt, ist ihre Phantasie. Diese Kombination aus Ungezwungenheit und Ehrlichkeit, die sie offenbar in die Lage versetzt, allem, was ihnen gerade durch den Kopf geht, Ausdruck zu verleihen. Und ich habe rausgefunden, daß ich jedes Kind zum Lächeln bringen kann.“ Off the Wall with Keith and the Kids lautete der Titel einer Serie, die Haring für das amerikanische Fernsehen produzierte.

In Amerika selbst galt die Fähigkeit, Kinder zum Lächeln zu bringen, nicht viel. Zeit seines kurzen Lebens litt Keith Haring darüber, daß ihm die dortigen Kulturfunktionäre nicht annähernd soviel Anerkennung entgegenbrachten wie ihre Kolleginnen und Kollegen in Europa und im comicverliebten Japan. „Man interessiert sich in den USA vor allem für Keith' Erfolgsstory, die einmal mehr den American Dream zu bestätigen scheint“, sagt sein langjähriger Freund, der 'Herald Tribune‘-Korrespondent David Galloway. Und in der Tat hat die Geschichte des kleinen segelohrigen Keith aus Kutztown/Pennsylvania, der fast über Nacht zum Superstar der New Yorker Pop-Art-Szene wird, alles, was zum Klischee vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ gehört: 1978 in die Ostküstenmetropole gezogen, jobt Keith zunächst an der School of Visual Arts, um dann dort sein Studium zu beginnen. Vier Jahre später folgt die erste Einzelausstellung in New York, und Harings Auseinandersetzung mit der eigenen Angst vor einer Nuklearkatastrophe, die Beschäftigung mit Erziehung und Kindern, Homosexualität und Aids findet in der chiffreartigen Symbolsprache seiner Bildzeichen bei den allermeisten Kritikern uneingeschränkt positive Aufnahme. Vorbehalte bleiben trotzdem: „Ob seine Kunst sich durchsetzen und Bestand haben würde“, analysiert David Galloway mit leisem Lächeln weiter, „wollte man abwarten — und dieses Abwarten dauert drüben bis heute an.“

Eine nicht unwesentliche Rolle bei der Erklärung für die zögerliche Haltung der amerikanischen Kunstszene Keith Haring gegenüber mag auch die Persönlichkeit seines New Yorker Galeristen Tony Shafrazi spielen. Daß der Exil-Iraner, damals noch frustrierter und erfolgloser Künstler, am 28. Februar 1974 im Museum of Modern Art Picassos Bürgerkriegsbreitleinwand Guernica mit dem Satz „KILL LIES ALL“ besprüht hatte, verzieh ihm das MoMA bis heute nicht, obwohl das Bild sofort gereinigt werden konnte. Shafrazi gilt nach wie vor als nicht hoffähig, seine Künstlerinnen und Künstler werden nach Möglichkeit so lange ignoriert, bis man an ihnen beim besten Willen nicht mehr vorbeikommt. Einer der wenigen arrivierten Kunsthändler, der von Beginn an auf Haring setzte und ihn unterstützte, war der Verleger Martin S. Blinder. Über seine 38 Galerien an der West- und Ostküste der Vereinigten Staaten trug er wesentlich dazu bei, daß Harings Kunst auch einem breiten Publikum lange Zeit erschwinglich blieb: „Keith' Werk wird überleben und Bestand haben, denn es kann völlig unbeschwert daherkommen und ruppig sein, es kann energisch wirken oder fröhlich — es kann beinahe alles sein, was man darin entdecken will. Keith wird aus der nebulösen Masse der ständig neuen Künstler und Strömungen herausragen.“ Spätestens nach den großen Ausstellungen in Europa — den Anfang machte im Januar 1986 mit dem Musée d'art contemporain de Bordeaux bezeichnenderweise ein europäisches und kein amerikanisches Museum — sind allerdings die Preise für Originale, Grafiken und die Multiples rapide in die Höhe geschnellt.

Einen seiner letzten Aufträge erhielt Keith Haring 1989 von BMW. Schon sichtlich geschwächt kam der Künstler im Dezember des Jahres nach Düsseldorf, um dort in der Galerie Hans Mayer ein rotes Sportcabrio mit seinen schwarzen kalligraphischen Mustern zu überziehen. Haring selbst empfand die Zusammenarbeit mit dem Autohersteller als große Anerkennung seiner Arbeit: Vor ihm hatten bereits die prominenten Kollegen Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg, Frank Stella und Alexander Calder ihren eigenen Wagen gestaltet. Wer Keith Haring bei seiner Arbeit in Düsseldorf zusah, konnte nichts von seiner fortgeschrittenen Erkrankung bemerken. Mit traumwandlerischer Sicherheit fügte er Linie an Linie, schuf ein ästhetisches Linienmuster, das den Vergleich zu seinen Bildern dieser Zeit nicht zu scheuen brauchte. Und auch die große Anzahl Journalistinnen und Journalisten, die seine Arbeit begleiteten, störte ihn nicht. — Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten aber ging es mit Harings Gesundheitszustand rapide bergab. Bald fehlte die körperliche Kraft, noch den Pinsel halten zu können. Der 31jährige fiel zeitweise ins Delirium. John Gruen selbst, der Haring auch in dieser Zeit fast täglich besuchte, schreibt: „Beinahe über Nacht war Keith in beängstigender Weise abgemagert. Die wasserhellen, blauen Augen lagen tief in den Höhlen, sein Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen. Wie sein keuchender, stoßweiser Atem erkennen ließ, war er tatsächlich sehr erregt, und die Hände zogen an den Infusionsschläuchen, an den Geräten. Nachdem Keith sich wieder beruhigt hatte, flüsterte er: ,Block ... Block ... Stift‘.“ Und aus den immer sicherer werdenden Strichen formte der todkranke Maler ein kleines Beinpaar, den Anfang eines winzigen Körpers — das lebenspendende Strahlenbaby, sein erstes „tag“, das fast genau zehn Jahre zuvor seine Karriere eingeleitet hatte. Das Strahlenbaby in Keith Haring starb am 16. Februar 1990 um 4.40 Uhr in New York.

Keith Haring. Die autorisierte Biographie von John Gruen. Aus dem Amerikanischen von Walter Hartmann. 272 Seiten, zahlreiche Farb- und S/W-Abbildungen, Wilhelm Heyne Verlag, München, 68,—DM.

Noch bis Dezember zeigt Werke von Haring in Deutschland: Galerie Hete M. Hünermann, Im Ratinger Tor 2, 4000 Düsseldorf 1.