Europäische Preise, lateinamerikanische Löhne

In Uruguay, der einstigen Schweiz Amerikas, ist das Leben auch für die gutausgebildete Mittelschicht zum Überleben geworden  ■ Aus Montevideo Gaby Weber

Für sie war es das Drama ihres Lebens: Mit Mann und der 12jährigen Tochter zog Gabriela jetzt wieder zu ihren Eltern. Der Mietvertrag in ihrer alten Wohnung war nach zwei Jahren ausgelaufen, und statt den Zins an die jährliche Inflation anzupassen (im August betrug die Angleichung 107 Prozent), bot ihr der Vermieter einen neuen Vertrag an: für die doppelte Miete.

In Montevideo herrschen inzwischen, zumindest was die Mieten angeht, europäische Verhältnisse. Während früher noch die staatliche Bausparkasse Kredite für ein kleines Häuschen vergab, die man 30 Jahren lang bequem abstottern konnte, ist es mit den billigen Darlehen vorbei. Die Banco Hipotecario ist praktisch pleite. Wohnraum ist knapp und Preisbindungen sind verpönt, Quadratmeterpreise von 15 Mark sind keine Seltenheit. Gabrielas neue Nachbarn, zwei junge Männer, haben für 400 Mark monatlich eine umgebaute Garage gemietet, mit Wellblechdach und ohne Fenster. Wie die das wohl bezahlen? Vielleicht ab und zu einen Coup, munkelt man im Stadtteil, denn allein mit ehrlicher Arbeit sind heutzutage Mieten kaum noch zu finanzieren.

Gabriela hatte bei ihrer Suche sogar einen Vorteil: Da Arbeitsnachweise den Vermietern als Sicherheit nicht ausreichen, müssen Bürgen beigebracht werden, die mit ihrem Grundbesitz haften. Ihre Eltern waren dazu bereit, aber das einzige Angebot bestand aus einer 50-Quadratmeter-Wohnung für 600 Mark — das wären drei Viertel des gesamten Familieneinkommens gewesen. Nun muß sich die Großfamilie wider Willen die siebzig Quadratmeter teilen, die sich die Eltern noch in besseren Zeiten gekauft hatten.

Seit 14 Jahren ist Gabriela bei der staatlichen Raffinerie Ancap angestellt (Monatsverdienst: umgerechnet 400 Mark). Ihr Mann, Textilarbeiter, bringt etwa denselben Betrag nach Haus. Dazu kommt noch ein bißchen Schwarzarbeit, mal als Handwerker oder als Putzfrau. Irgendwie war die Familie immer über die Runden gekommen, und sie hatte ja auch eine Perspektive für die Zukunft. In Abendkursen hatte Gabriela Psychologie studiert. Das Diplom hatte sie mit Auszeichnung bestanden, doch ihren Beruf wird sie wohl nie ausüben: Um sich selbstständig zu machen, fehlt das Kapital. In der Forschung ist nichts zu verdienen, die Universitäten sind ausgezehrt, aus Platznot finden die Vorlesungen in Kinos statt, ohne Heizung und ohne Geräte; ein Hochschullehrer bringt es vielleicht auf 300 Mark, weniger also, als Gabriela bei Ancap verdient.

Bliebe noch das Polizeihospital übrig, da ist neulich eine Kollegin untergekommen, die nun den Rang des Leutnants bekleidet. Aber da kann sie auch gleich in der Raffinerie bleiben. Jedenfalls, solange es gut geht, denn Ancap steht auf der Liste der Betriebe, die privatisiert werden sollen. Und dann wird das Personal mindestens halbiert werden.

Offiziell sind in Uruguay 10,4 Prozent ohne Arbeit, die Dunkelziffer ist viel höher. Industrielle Arbeitsplätze gibt es kaum, und die wenigen, die noch übrig geblieben sind, sind jetzt nochmal durch den baldigen Fall der Zollschranken zu den Nachbarländern Brasilien und Argentinien bedroht. Die Hauptstraße Montevideos platzt aus allen Nähten. Auf den Bürgersteigen haben sich die ambulanten Händler mit ihren Tapeziertischen breit gemacht, an den Schaufenstern hocken Bettler, Zigarettenverkäufer und Erdnuß-Röster. Die Geschäftsleute jammern seit Monaten über diese „unfaire Konkurrenz“, die die Gehsteige verstopft, keine Steuern und Angestellten bezahlt und mit ihren geschmuggelten und geklauten Waren die Kundschaft abwirbt.

Das Leben in Uruguay ist zum Überleben geworden. Weder die öffentliche noch die private Hand investiert, die Infrastruktur stammt aus den fünfziger Jahren. Heute ist telefonieren Glücksspiel, Stromausfälle fast Normalzustand. Nur die Preise können sich sehen lassen: Alles was auch nur im Entferntesten mit industrieller Verarbeitung zu tun hat, ist sündhaft teuer. Papier wird nicht im 500er-Pack erstanden, sondern Blatt für Blatt abgezählt, der billigste Leitz-Ordner kostet acht Mark, ein kleiner Aluminium-Kochtopf 30. Ein Baumwollslip ist ab sieben Mark zu haben, eine Bluejeans ab 50, ein Paar Turnschuhe ab 90 Mark. Jeder Supermarktbesuch wird zum Horror-Trip: Ein Paket Waschpulver kostet 15 Mark, eine große Paprika 1,50, eine Kilo Kartoffeln 2 Mark. Und auch Milch- und Fleischprodukte sind nicht billig.

Eine Standard-Familie (Ehepaar mit zwei Kindern) braucht zum Leben 1.150 Mark — dies ist, so hat die Regeirung errechnet, der canasta familiar, der Warenkorb; dabei ging sie allerdings, völlig unrealistisch, von einer Miete von 190 Mark aus. Daneben hat sie den „Warenkorb zum Überleben“ auf 500 Mark geschätzt. Die „linea de indigencia“ beträgt 200 Mark, unterhalb dieser absoluten Armutsgrenze kann man sich nur noch aus der Mülltonne ernähren. Den Mindestlohn hat die Regierung auf 130 Mark festgesetzt, und ihren Postbeamten, Grundschullehrern und Polizisten zahlt sie auch nicht viel mehr. Wer nicht verhungern will, braucht also mehrere Jobs, am besten schwarz, und hält, wenn er kann, die Hand auf: Verkehrssünder einigen sich grundsätzlich ohne Quittung mit den Uniformierten.

Heute leben in Uruguay, der einstigen Schweiz Amerikas, 46 Prozent aller Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Auch das ist eine offizielle Zahl. Sie bekommen in den Speisesälen der Schulen eine warme Mahlzeit pro Tag; wer einen Armenausweis hat, kann auch in den Kantinen des staatlichen Instituts für Ernährung Schlange stehen. Hungerbäuche gibt es daher nicht und — verglichen mit Brasilien oder Peru — halten sich auch die bettelnden Kinderheere in Grenzen.

Was aber „das Schlimmste“ ist, sagt Gabriela, „es fehlt jede Perspektive“. Bis vor kurzem habe sie gehofft, daß sie als Psychologin auf einen einigermaßen grünen Zweig kommen würde — eine Illusion. Wahrscheinlich bleibt Gabriela im Haus ihrer Eltern wohnen, denn die Mietsituation wird sich kaum verbessern. Der einzig mögliche Ausweg heißt Carrasco. Dort befindet sich der internationale Flughafen.