Ein bißchen Inflation kann nicht schaden...

...nur gar so hoch sollte sie nicht sein: Wie die Brasilianer mit der rasanten Geldentwertung in ihrem Lande klar kommen  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

In einer vornehmen Modeboutique streiten sich die Kundinnen darum, wer das Recht hat, die letzten Röcke und Blusen zu kaufen. Das Supersonderangebot — jedes Teil umgerechnet zehn Mark — dauert nur zehn Minuten. Kurz darauf wird im Einkaufszentrum „Barra-Shopping“ über Lautsprecher das nächste Blitzangebot angekündigt. Und so geht es den ganzen Tag. In Brasilien, wo die Inflation im Oktober wieder auf 30 Prozent geklettert ist, haben Sonderangebote eine enorme Wirkung.

Inflation gehört zu Brasiliens Geschichte wie Karneval, Fußball oder Samba. Bereits 1690, als im Bundesstaat Minas Gerais das Goldfieber ausbrach, stiegen die Lebenshaltungskosten innerhalb eines Jahres um 50 Prozent. Seitdem ist die brasilianische Bevölkerung daran gewöhnt, mit mindestens zehn Prozent Inflation im Jahr zurechtzukommen. Zu diesem Ergebnis kommt Professor Mircea Buescu in seinem Buch 300 Jahre Inflation.

In den letzten 30 Jahren freilich nahm die Schwindsucht des Geldes derart drastische Formen an, daß das friedliche Zusammenleben bedeutend schwieriger geworden ist: Seit Oktober 1961 ist nach Berechnungen der Tageszeitung 'Folha de Sao Paulo‘ der Wert des Cruzeiro um 702.389.575.300 Prozent gesunken; nichts konnte den Milliardenverlust aufhalten: weder die vier Währungsreformen der letzten zehn Jahre, noch die 54 Preiskontrollen, noch 14 verschiedene Lohngesetze und schon gar nicht die Militärdiktatur.

Die Inflationsmentalität steckt in jeder BrasilianerIn. Der Gedanke, jeden Monat dasselbe zu verdienen, ist für die meisten ziemlich unangenehm. Ein bißchen Inflation kann nicht schaden, wenn sie bloß nicht so hoch wäre, meinen viele. Jeder versucht, sich beim Wettlauf mit der Zeit einen Startvorteil zu verschaffen. Wer eine Eigentumswohnung auf Raten gekauft hat, versucht, die Gehaltserhöhung zu verschleiern, damit die Rate nicht angehoben wird. Wer in einem Supermarkt ein Produkt zu teuer findet, vertauscht heimlich die Preisetiketten.

Der Teufelskreis der Inflation beginnt meist bei den Preisen. So erhöhte Fernando Albuquerque, Besitzer eines Supermarktes in Sao Paulo, kürzlich den Preis für ein Kilo Schinken um 40 Prozent. Die Produktionskosten seien gestiegen, sagte er zur Begründung. Der Schinkenhersteller „Sadia“ rechtfertigte den Anstieg damit, daß die Schweine um die Hälfte teurer geworden seien. Die Schweinezüchter wiederum erklärten, die Kosten für den Futtermais seien gestiegen. Die Maisanbauer machten die hohen Zinsen verantwortlich. Schließlich fordern die Arbeiter Gehaltserhöhungen, womit sich die Inflationsspirale endgültig um eine Stufe weiter nach oben schraubt. Fazit: Alle sind zunächst einmal zufrieden, denn sie bekommen mehr Geld.

Die Taktik der Gewerkschaften besteht nicht etwa darin, die Inflation als ungerechte Umverteilung von Einkommen zu bekämpfen, sondern astronomische Forderungen zu stellen, um die Lohnverluste auszugleichen. So traten kürzlich die Arbeitnehmer des staatlichen Mineralölkonzerns Petrobras für 300 Prozent Gehaltserhöhung in den Ausstand. Die Inflation von Januar bis August 1991 betrug jedoch „nur“ 164 Prozent.

Der Selbstbetrug funktioniert perfekt. „Supersonderangebote“ verleihen den KonsumentInnen das gute Gefühl, der Inflation ein Schnäppchen geschlagen zu haben. Normalerweise allerdings dienen die verschiedenen Preiskategorien als Schutz vor dem allgegenwärtigen Gespenst des Preis- und Lohnstops, den die Regierung in regelmäßigen Abständen verhängt. Dann nämlich verschwinden die Sonderangebote und es bleibt lediglich der „normale“ Preis vorhanden, bei dem die Inflation für die nächsten Monate schon mit einkalkuliert ist. Falls die Preise auf unbestimmte Zeit festgefroren sind, verschwinden nach und nach auch wichtige Produkte aus den Regalen oder der Inhalt der Verpackungen wird reduziert.

Einige Einwohner des Elendsviertels Rocinha in Rio de Janeiro sind inzwischen als Immobilienspekulanten verschrien: Die größte Favela Lateinamerikas mit 250.000 Einwohnern wächst nicht nur, weil täglich neue Zuwanderer kommen, sondern auch, weil Alteingesessene fünfstöckige Häuser am Rande der Favela hochziehen und die Wohnungen teuer vermieten.

Doch seit dem Amtsantritt von Präsident Collor vor eineinhalb Jahren, der die Inflation mit einem Karateschlag hinwegfegen wollte, ist die Lage erheblich komplizierter geworden. Die Löhne werden nicht mehr jeden Monat automatisch an die Inflation angepaßt, sondern nur noch einmal, höchstens zweimal im Jahr korrigiert. Wer im Januar umgerechnet 2.000 Dollar monatlich verdiente, dessen Gehalt ist heute nur die Hälfte wert. Die täglich fälligen Staatstitel, genannt Overnight-Papiere, werden kräftig besteuert, wenn sie weniger als 18 Nächte auf der Bank liegen. Allerdings: Die Devisen- und Goldspekulation hat, nachdem die Regierung die zuvor eingefrorenen Sparguthaben wieder freigab, die Inflation erneut angeheizt, für November wird mit einer Rate von 50 Prozent gerechnet. Für die Konsumenten der Mittelschicht ist die einzige Möglichkeit, sich vor der Inflation zu schützen, das Geld sofort auszugeben.

„Hand aufs Herz: Wer sehnt sich heute nicht nach der liebenswerten automatischen Geldkorrektur? Das Sparbuch wuchs jeden Tag, die Ziffern multiplizierten sich wie die Kaninchen in der Scheune, und dieser hypnotische Rhythmus hatte einen beruhigenden Effekt auf die nervösen Seelen“, höhnt das Nachrichtenmagazin Veja. Nicht nur die Bankiers und Unternehmer verdienen gut an der Geldentwertung. Jeder, der umgerechnet 80 Dollar übrig hat, kann sein Geld gewinnbringend in Staatspapieren anlegen.

Es sieht ganz so aus, als ob Brasilien pünktlich zu Weihnachten zu diesen „trauten Zeiten“ der Hyperinflation zurückkehren wird, denn die Ursachen der Inflation grassieren nach wie vor ungestört im Lande: Die Staatsverwaltung gibt mehr aus, als sie einnimmt. Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, Privatisierungen sowie die bereits mehrfach angekündigte Steuerreform wurden bis jetzt noch nicht in die Tat umgesetzt. Brasiliens Handelsbilanzüberschuß reicht nicht aus, um die Zinsen, geschweige denn die enorme Auslandsschuld von 120 Milliarden Dollar zu begleichen. Schlimmer noch: Nach so vielen gescheiterten Anti-Inflations-Programmen glaubt in Brasilien niemand daran, daß dieses Übel wirklich aus der Welt zu schaffen ist.