Der vergessene Reiskorb

■ Zum Programm des Berliner »Forums vietnamesischer Kunst«

Das Sein bestimmt das Bewußtsein, oder, im speziellen Fall: Nur einer, der den Magen einigermaßen gefüllt hat, kann sich auch Kultur leisten. Genau daran scheitert ein kleiner Wanderzirkus, der seine Zelte in irgendeinem Dorf Vietnams aufgeschlagen hat. Weil aber die Zelte so leer bleiben wie die Mägen, läßt sich der Zauberer einen Trick einfallen: Abend für Abend verwandelt er einen leeren in einen vollen Reiskorb und lockt damit die Dorfbevölkerung an. Die Bauern verlassen das Feld, denn hier gibt es ja Reis für jeden — nur, wie es mit Zaubertricks eben so ist, sie bleiben eine bloße Gaukelei, von der man jedenfalls überhaupt nicht satt wird.

Das ist in groben Zügen die Handlung von Wanderzirkus, einem Film, den die Regisseurin Viet Linh zwischen 1988 und 1990 in Vietnam realisierte. Kaum zu glauben, daß er zu einem Politikum werden könnte — im kommunistischen Nach-Kriegs- Vietnam, einem der ärmsten Länder der Welt, aber mußte der Film unweigerlich als Parabel auf die miserable wirtschaftliche Situation verstanden werden.

Ideologische Hardliner sehen im Wanderzirkus gar sich selbst dargestellt und damit ihr Tun als Betrug am Volk entlarvt. Heute, im Zuge einer Glasnost, die aus der Sowjetunion ins Bruderland hinüberschwappte, wird der Film wegen seines pädagogischen Endes auch vom offiziellen Vietnam eher geschätzt. Besagt es doch, daß es volle Mägen ohne Arbeit nicht gibt.

Wanderzirkus ist einer der Höhepunkte von Drachenkinder singen leise, dem Forum vietnamesischer Kunst, das die Deutsch-Vietnamesische Gesellschaft e.V. noch bis Donnerstag dieser Woche veranstaltet. Zumal die Vorführung dieses Films eine Berliner Vorgeschichte hat: Zu den diesjährigen Filmfestspielen nämlich reiste Viet Linh persönlich an, um für ihre Low-budget-Produktion, für die sie aber immerhin ihr Haus verpfändet hatte, einen europäischen oder internationalen Vertrieb zu finden. Das war — Eurozentrismus juchee! — eine vergebliche Reise. Linh bemühte sich so engagiert wie erfolglos.

Während sich in Viet Linhs Film — in seinem Thema, seinen Produktions- und Vertriebsbedingungen — jüngste Geschichte reflektiert, setzt das sonstige Programm des Forums ganz bewußt auf die traditionellen Künste Vietnams. Das kriegs- und krisengeschüttelte Land, das einst die größte Ausländergruppe in der ehemaligen DDR stellte, soll von seinem »Fidschi«-Image befreit werden. So werden in einem »Musikseminar« die Vielfalt traditioneller vietnamesischer Instrumente und ihre Spielweisen vorgestellt, und über ihre Malerei, von der einige Aquarelle im Foyer des Hauses am Köllnischen Park gehängt sind, informieren Claudia Viet- Duc-Broschers und Pham Ky Dang in einem »Malereiseminar«.

Während Vietnam nach den legendären Anti-Kriegs-Demonstrationen am Ende der sechziger Jahre jetzt im Bewußtseins West-Berlins kaum mehr existent ist, werden Alibi-multikulturelle, vietnamesische Gastarbeiter im Osten als »Fidschis« verunglimpft und attackiert. Insofern ist es beachtlich, daß vier vietnamesische Musiker zwischen dem 4. und 13. November an West- und Ostberliner Schulen präsent sein werden, um von Tegel bis Marzahn sich und ihre Werke dem jüngeren Publikum näherzubringen.

Am Donnerstag, dem letzten Termin des Forums, geht es in medias res:Tradition und Überleben heißt ein sogenanntes »Rundtischgespräch« zu den Entwicklungschancen vietnamesischer Kultur und Gesellschaft, will sagen: Vietnam steht nicht außerhalb der alten und reichen Tradition asiatischer Kunst, zugleich aber ist es ein Land, das am Ende des Ost-West- Konflikts auf der Schwelle balanciert. Bernd Gammlin

Drachenkinder singen leise — Termine:

Ohne Worte, Malereiseminar, Haus am Köllnischen Park, Straße am Köllnischen Park 6-7 heute um 18.30 Uhr.

Traditionelle vietnamesische Musik — Aufführungspraxis und Geschichte , Humboldt-Universität, Unter den Linden 6-8, Dienstag, 18 Uhr.

Wanderzirkus, Film von Viet Linh, Club von Berlin, Otto-Nuschke- Str. 2-3, Mittwoch 19 Uhr.

Von Pfahlbauten und Pagoden, die Architektur Vietnams, 17 Uhr.

Tradition und Überleben — Rundtischgespräch zu Kunst, Künstlern und Gesellschaft in Vietnam, Donnerstag 19.30 Uhr, Haus am Köllnischen Park, Saal 5.