Wo stinkende Klohäuschen zu neuen Stadtideen werden

■ Das Stadtforum diskutierte »Stadtideen«: Keine Utopien für die Gesamtstadt/ Neue Städte in der Region/ Schönere Abfalleimer — nette BVGler/ Überwiegend ordentlich und analytisch/ Assoziativ und schrill nur am Rande/ Verdichtung nach innen — neue Großstädte in mittlerer Entfernung

Den Geist der Utopie atmeten sie gerade nicht, die fünf »Stadtideen«, die am Wochenende auf der zwölften Runde des Berliner Stadtforums diskutiert wurden. Statt dem Aufzeigen von Entwicklungsszenarien als »subjektive Idee von der Stadt, als planerische Vision in dieser Situation des Umbruchs«, wie Günter Schlusche von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das »Verfahren Stadtidee« charakterisierte, scheinen städtebauliche Überlegungen für die Zukunft Berlins und seiner Region mehr denn je von solidem Handwerk oder nostalgischen Bildern geprägt. Da kann man nichts falsch machen, bewegt sich auf sicherem Terrain und hat die unsicheren Politiker und behäbigen Verwaltungen auf der Seite.

Dabei hatte es so hoffnungsfroh begonnen: Fünf interdisziplinär besetzte Teams aus Stadtplanern, Architekten, Landschafts- und Verkehrsplanern waren im Rahmen des Stadtforums beauftragt worden, »Stadtideen« zu entwerfen. Gedacht war das Gutachterverfahren als Versuch einer »konzeptionellen Überwölbung aller Neuentwicklungen« (Schlusche), wo Querdenker gefordert waren. Doch schon die Zusammenstellung der Gruppen brachte alte Hasen der IBA mit Meistern der städtebaulichen Rekonstruktion zusammen, die schwerlich etwas Neues im Sinn hatten. Was konnte also Schillerndes, Unerwartetes entstehen? Wo war der Anteil Chaos für neue Stadtideen?

Überwiegend ordentlich und analytisch, assoziativ und schrill nur am Rande — wurden »Stadtideen« präsentiert, von denen einige so originell sind, daß man sich die »Innovationen« auf der Zunge zergehen lassen muß: Die Gruppe »Regioplan« beispielsweise setzte auf »neue Planungsschritte« im Rahmen des fingerförmigen »Sternmodells«: Der innere Autobahnring soll geschlossen und eine Verbesserung des ÖPNV- Netzes angestrebt werden. Zur Wiedergewinnung der ökonomischen Basis seien die Erhaltung der großen Industriegebiete ebenso Pflicht wie die Errichtung des »City-Bandes« zwischen Ost- und Weststadt und die Aktivierung von Dienstleistungsstandorten entlang des S-Bahnrings. David Mackay, Olympia-Dorf-Architekt aus Barcelona, empfahl in seinen »Ideen für Berlin« eine »Vervollständigung« der existierenden Stadtstruktur. Die Wiedergewinnung des öffentlichen Raumes in Berlin-Mitte könne durch eine »Veredelung« der räumlichen Struktur hergestellt werden. Die bestehenden Bauten in der historischen Mitte Berlins (bis auf den »Sündenpfuhl DDR- Außenministerium«, Volker Hassemer) sollten mit neuen Gebäuden »vernäht« werden. Der Palast der Republik erhielte ein niedrigeres Pendant. Den Fernsehturm umschloß Mackay mit einem Gebäudering. Schließlich verwandelte er den Alexanderplatz in ein heimeliges Örtchen mit Bäumchen und Straßencafés.

So richtig David Mackays Methode der Stadterneuerung in Barcelona war, so fragwürdig ist sie vielleicht für Berlin: Das heutige Berlin gleicht nicht dem Cerdá-Barcelona mit seinem rasterartigen Stadtgrundriß aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der leicht rekonstruiert werden konnte. Zudem wurden in das Nachkriegs-Berlin nicht nur blutende Wunden geschlagen. Die jetzige Topographie bildet auch charakteristische neue, hauptsächlich grüne Räume, die zu erhalten sind. (Die Gruppe »Planwerk« wies in ihrer Stadtidee auf die Besonderheiten dieser »Inseln der Leere« und »städtebaulichen Überweiten« Berlins hin.) Schließlich erscheint die Revitalisierung der Mitte mit der Methode des »urban design« regelrecht aufgesetzt, je mehr sie auf »Gestaltung« statt auf Handhabbarkeit der Stadt setzt. Nicht jeder ist ein Lenné oder Schinkel!

Wie schwer es ist, experimentelle Stadtideen zu formulieren, verdeutlichten die kühneren Vorstellungen der Architektenteams »Freie Planungsgruppe Berlin« mit Herbert Zimmermann und die Gruppe Christoph Langhof: Um die Region Berlin vor der zu erwartenden teppichartigen Zersiedelung aus Eigenheimen und Gewerbebauten zu retten, meinte Zimmermann, sollten — neben der Verdichtung nach innen — neue Großstädte in mittlerer Entfernung von Berlin entstehen; eine fragwürdige Idee, angesichts der Tatsache, daß die bestehenden nahen Städte Frankfurt/O., Brandenburg, Neuruppin oder Dessau sich entleeren und verfallen. Nicht neue polyregionale Zentren, sondern gleich eine ganze Stadt der Zukunft ist auf Christoph Langhofs Reißbrett entstanden. »Delta, die Gartenstadt im Süden Berlins mit Kanälen, Flüssen und Seen«, stehe symbolisch für den Neubeginn eines »sogenannten dritten«, eines gemeinsamen Wegs in die Zukunft. »Delta ist ein Katalysator, der Berlin mit seinem Umland und mit sich selbst versöhnt«, meinte Langhof, weil der Graben zwischen Ost- und Westberlin sich eher vertieft als verkleinert. Die neue Stadt wäre demnach nicht nur die Metapher einer Versöhnung, sondern zugleich eine neue bauliche und soziale Größe: Die Superstadt mit zukunftsweisenden Architekturen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Konzepten — für (neue?) Menschen des 21. Jahrhunderts.

Wie machbar erschienen da die wenig ernst genommenen Vorschläge der Gruppe »Rastlos«, die so anarchistisch wie praktikabel daherkamen: Was können wir besser machen im langweiligen Stadtbild, fragten sie sich und ließen die sichtbaren und riechbaren Defizite Revue passieren: Klohäuschen, Poller und Imbißbuden, Hundescheiße, zertretenes Grün und häßliche Abfalleimer, fehlende Infostände (»Infozellen«), unwirtliche U-Bahnhöfe und Haltestellen mit bösartigem Aufsichtspersonal sowie abweisende Straßenzüge. Zum Laboratorium wird die Stadt selbst, ihre Sprache, ihre Zeichen und Grammatik. Die »rastlose Stadtidee« setzte im Alltag an und flüchtete sich nicht aus der Stadt, ist kein Masterplan und kein Alptraum. Sie ist keine Utopie, aber schreitet fort und endet niemals. Rolf R. Lautenschläger