Andere Zwecke

Zweiter Seitenblick auf das KKW Greifswald  ■ Von Gabriele Goettle

Wer nicht gezwungen wird, der Tagesaktualität hinterherzuhecheln, hat es gut und kann in aller Ruhe den eigenen alten Recherchen noch einmal nachgehen, um zu sehen, was aus dem Gegenstand damaliger Neugier geworden ist. Unser Bericht über Greifswald erschien Mitte 1990 hier in der taz unter dem Serientitel: „Es ist komplettiert“.

Damals, im April 1990, war es noch etwas umständlich, sich dem Kraftwerksgelände zu nähern. Auf der regulären Zufahrtsstraße, neben der sich die silberfarbenen Fernwärmeversorgungsrohre für Greifswald dahinwinden, stand alle paar Meter eine große Warntafel, auf der Unbefugten jede Weiterfahrt untersagt wurde. Als uns dann noch entgegenkommende Werkslastwagen Lichtzeichen gaben, kehrten wir um und suchten einen Schleichweg über die Dörfer. So gelangten wir von hinten her, über einen Plattenweg, der in keiner Karte verzeichnet war, direkt ans Gelände. Hinter der endlos langen Betonmauer waren Arbeiter zu sehen, große Rohre wurden zusammen- oder auseinandergeschweißt, weißer Wasserdampf drang aus diversen silbernen Stutzen. Etwas abseits, am Waldrand, auf einem abgewetzten Rechteck der Wiese, spielte die Werksfeuerwehr in voller Uniform Fußball, vor dem Haupteingang war der großflächige Parkplatz vollgestellt mit Wartburgs, Skodas und Trabanten, auf den Gleisen des gegenüberliegenden betriebseigenen Bahnhofs warteten zweistöckige Waggons auf den Schichtwechsel.

Heute, im Juli 1991, sind die Verbotsschilder abmontiert. Statt dessen wird man seitlich von der Zufahrtsstraße weggelockt zum „Informationszentrum“. Es hat bereits geschlossen. Auch alles andere sieht sehr geschlossen aus. Vor einem Vierteljahr wurde der letzte noch betriebene Block abgeschaltet, die Stillegung war beschlossene Sache, der Betrieb ist im Besitz der Treuhand-Gesellschaft und soll „abgewickelt“ werden, das sind unsere Informationen aus der Presse. Auf dem Parkplatz vor dem Hauptportal stehen nur wenige Fahrzeuge, vorwiegend westlicher Bauart. Der Bahnhof ist verwaist, zwischen den Schienen siedeln sich bereits hier und da robuste Pflanzengesellschaften an. Verwaist ist auch der immer noch kahle Fleck am Waldrand. Oben vom Verwaltungsgebäude hat man die großen roten Leuchtbuchstaben entfernt, unter ihnen ist der Verputz weiß geblieben, so daß der ehemalige Schriftzug noch zu lesen ist: „VEB KERNKRAFTWERKE BRUNO LEUSCHNER GREIFSWALD“ — jedenfalls für eine Weile noch. Der neue Name lautet, so die Beschilderung: „ENERGIEWERKE NORD AG“.

Es ist Ferienzeit. Im nahe gelegenen Ort Lubmin schlendern ein paar Urlauber herum, in jenen grellfarbenen Freizeittextilien aus atmungsaktiven Kunstfasern, die momentan sehr geschätzt werden. Vielleicht haben sie hier ihre Datsche? Die Ferienobjekte volkseigener Betriebe oder des FDGB jedenfalls scheinen leerzustehen, sind wohl Bestandteile der Konkursmasse und Treuhand- Besitz. Hinter den Zäunen hängen die Kinderschaukeln an rostenden Ketten, aber irgend jemand darf das alles noch pflegen, die Wege wirken geharkt, um die Rabatten ist das Unkraut gejätet, der Rasen wurde geschoren. Am Ortsausgang hat sich unter den Bäumen ein Wanderzirkus niedergelassen. In einem winzigen überdachten Hippodrom kreisen gefleckte Ponys mit gesenkten Köpfen zu ohrenbetäubender Jahrmarktmusik langsam um die Achse, an der sie angeschirrt sind. Ein Kind wird in den Sattel gehoben und kreist mit. Die Luft riecht nach heißen Mandeln und verbranntem Fett.

Der Nachtplatz vom Vorjahr, nahe am Wasser, ist nicht mehr zu finden. Statt dessen gelangen wir nach einigem Suchen wieder zum Kraftwerksgelände und sehen, daß hier hinten alles offensteht. Wir fahren vorbei an leeren Wellblechhallen, an Flugdächern, unter denen irgendwelche Maschinenteile lagern, an Fässern, Schienenteilen, Baumaterial. Der Asphaltstreifen führt in ein Fichtenwäldchen, hinter dem unmittelbar die Dünen liegen. Grob gezimmerte Tische und Bänke stehen zwischen den Bäumen, man kann sich setzen und beim Rauchen über die spiegelnde Wasseroberfläche sehen, während die Sonne untergeht, oder aber in einer gefaßten Feuerstelle in den Dünen Tannenzapfen verbrennen, bis sich ausreichend Glut bildet zur Erwärmung einer Büchse Ravioli. Unsere Hunde sind lange Zeit verschwunden. Es gibt hier Kaninchen und merkwürdig viele verwilderte Katzen, von denen sich ab und zu eine zeigt und sofort wieder im Gebüsch verschwindet. Auf einem kleinen Spaziergang am Strand entlang entdecken wir, daß wir auf dem Gelände der ehemaligen Feriensiedlung vom „FDJ Jugendobjekt Großbaustelle“ sind. Vor einem Jahr schauten wir von der anderen Seite des Zaunes hier herein und schrieben ab, was auf dem Holzschild stand, fotografierten die Absperrungen und Warntafeln, fanden es seltsam, daß sich die Jugend ausgerechnet hier im Sand und Wasser tummeln sollte zur Erholung von der Arbeit.

In letzter Zeit allerdings scheint kein Mensch mehr hiergewesen zu sein, keinerlei Westmüll liegt am Strand, nur Treibholz und vertrockneter Tang. Eine bis weit ins Wasser hineingehende Barriere aus eng nebeneinander in den Sand gerammten Eisenpfählen steht immer noch abwehrend da. Aber nun muß niemand mehr davon abgehalten werden, hinüberzugehen in den Bereich, wo der Sog der Turbinen den Badegast womöglich hätte irgendwo hineinreißen können. Auch von den Schwänen ist nichts mehr zu sehen, die damals, zu mehreren Hundertschaften, in den bis zu 22 Grad warmen Kühlwasserströmungen so viele Fische fraßen, daß sie hinterher reglos ein paar Stunden auf den Wellen dahintreiben mußten vor Ermattung. Der Abend ist warm und der Himmel klar, das Wasser plätschert vielversprechend ans Ufer, aber wir wollen lieber nicht schwimmen hier. Von Rügen blinkt das Licht eines Leuchtturms herüber.

Am nächsten Vormittag gehe ich alleine zur Informationsstelle, Elisabeth will umherstreifen und fotografieren. Mein Weg führt durch ein Tor, an leeren Flachbauten vorbei und an einem Häufchen Streusand, das man wohl zur Hand haben wollte, bei Eisesglätte oder Ernstfall. Hier drinnen ist alles gegeneinander abgeschottet und eingezäunt. Das äußerst umfangreiche Gelände scheint aus einer Vielzahl geschlossener Zonen bestanden zu haben oder noch zu bestehen. Auch das Gebäude der Informationsstelle liegt hinter einer Betonmauer. Im Hof stehen Streifenwagen, hier residiert zugleich auch eine Polizeistation, man schickt mich zum Seiteneingang.

Im Treppenhaus steht — offensichtlich abgestellt — ein großer, blauer, verstaubter Leuchtglobus, auf dem man ursprünglich per Knopfdruck anscheinend sämtliche KKWs der Welt aufglühen lassen konnte. Ein wirklich schönes Stück. Oben im Flur herrscht Stille. Über den aufgebauten und aufgestellten Exponaten knistert und flackert blauweißes Neonlicht, der Boden glänzt und riecht unverwechselbar nach jenem Reinigungsmittel, das man zu DDR-Zeiten auch in der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße roch. Auf einem Tisch liegen, ordentlich aufgereiht, kleine Stapel mit Broschüren, die dem Besucher kostenlos zur Verfügung stehen und seine vorgefaßten Bedenken zerstreuen sollen. Neben farbigem Hochglanzmaterial aus dem Westen gibt es einige wenige Eigenerzeugnisse in Schwarzweiß mit schlecht fotokopiertem Bild auf dem Titelblatt, in denen über die „Energiewerke Nord“ informiert wird. Während ich blättere, tritt aus der gegenüberliegenden Tür ein Mann Anfang Fünfzig. Noch bevor er sich erschreckt zurückziehen kann — offenbar meldet man sich hier vorher an —, habe ich ihn schon angesprochen:

G: Guten Tag, ich möchte mich informieren...

I: Aha... Sie sind ganz alleine??

G: Ja, ich bin von der Presse, der 'tageszeitung‘ Berlin, und eigentlich komme ich hier nur zufällig vorbei.

I: Ach, Presse... das ist schlecht momentan... Sie könnten höchstens da mal reingucken...

G: Gucken wollte ich eigentlich gar nicht, ich möchte nur kurz mit jemandem sprechen.

I: Das ist wirklich sehr ungünstig momentan... da müßten Sie mal...

G: Ach was, ich habe ja nur zwei harmlose Fragen, zum Beispiel: Seit wann gibt es denn dieses Informationszentrum? Als ich voriges Jahr hier war, gab's noch keines.

I: Das... das gibt's seit ungefähr einem Jahr. Wann waren Sie denn da?

G: Im April '90.

I: Ja, sehn Sie, da war schon alles in Vorbereitung, am 9. Mai 1990 wurde hier eröffnet. Früher gab's hier nur ein technisches Kabinett für Fachspezialisten, eben ganz normal, bis dann nach der Wende beschlossen wurde, ein Öffentlichkeitskabinett einzurichten. Jetzt, seit einiger Zeit, kommen immer mehr Gruppen zu uns, Schulklassen, Lehrlinge, letztens waren zwanzig Mann da, vorher fünfzig. Es waren Dänen da und Schweden, auch aus dem Westen gab's Besucher.

G: Kommen denn auch mal ehemalige Arbeiter vom Werk hierher?

I: Ja, da waren auch schon mal welche da. Aus Halle kam einer, der war '85 hier auf der Baustelle, hat jetzt hier Urlaub gemacht und sich ein bißchen umgeschaut. Der war ganz enttäuscht...

G: Was ich noch fragen wollte, wie ist das denn nun eigentlich gelöst mit der Energieversorgung von Greifswald, wenn alle Blöcke abgeschaltet sind?

I: Daran hat man schon frühzeitig gedacht. Als klar war, daß wir stillegen mußten, wurde sofort mit dem Bau einer Ersatzwärmeversorgungsanlage begonnen, mit der Errichtung von Ölheizwerken, das wurde damals so entschieden, daß die hierherkommen, weil wir ja technologisch dazu teilweise schon ausgerüstet waren. Da hat dann Siemens, der Hauptauftragnehmer und technologischer Hauptlieferant war, zusammen mit unserem Starkstromanlagenbau Rostock und verschiedenen Bauunternehmen die ganze Sache pünktlich zum November 1990 hingestellt.

G: Sind das die silbrigen Gebäude?

I: Ja, die zwei Schornsteine da und weiter hinten noch mal einer...

G: Das wollte ich wissen.

I: Ach so, das wollten Sie wissen, na dann... nee, nee, die werden nach wie vor voll versorgt von uns, energiemäßig, da gibt's keinerlei Abstriche. An uns hängen ja nicht nur die Siedlungen dran, sondern auch Industrieanlagen, Krankenhäuser, Schulen... andererseits, im Grund' ist das natürlich ein Rückfall in die Steinzeit, wenn man bedenkt, daß wir vom Reaktor auf den Ölheizkessel umgestiegen sind...

G: Ach ja, noch was, wie ist denn eigentlich das ganze radioaktive Material, das im Abklingbecken liegt — nehme ich mal an —, und das alte im Zwischenlager, wie ist das eigentlich gesichert? Ich habe das Gefühl, man kann jetzt hier überall rein- und rausspazieren?

I: Nein, nein, da kommt keiner ran! Wachschutzkommandos mit Hunden patrouillieren, das wird rund um die Uhr schärfstens gesichert von der WAKO, das ist eine Wachschutzgesellschaft mit Sitz in Hamburg, glaube ich.

G: Und was soll damit geschehen, man kann es ja nicht ewig bewachen?

I: Ja, sehn Sie... das steht noch nicht fest, es hieß mal, daß man die Brennelemente, von hier und von Rheinsberg, in die Sowjetunion verbringen könnte, aber das ist heute ganz unklar... das wird alles sicherlich erst mal zugeschweißt werden müssen für sieben Jahre, und dann sieht man weiter...

G: Und was ist Ihre Funktion hier?

I: Ich? Ich war Meßingenieur... nach der Stellenausschreibung bin ich — man kann sagen, glücklicherweise — auf diesem kleinen Posten hier gelandet. Vielleicht kann ich, wenn alles gutgeht, eine Weile hier bleiben... schön wären so zehn Jahre, dann könnte ich in den Vorruhestand übertreten.

G: Was genau haben Sie denn vorher hier im Werk gemacht?

I: Na, wie soll ich das erklären... ich habe hier die Generalinstandsetzung und Instandhaltung mit vorbereitet, die Konstruktionspartner gesucht und angewiesen, für Materialbeschaffung gesorgt, wir haben ja hier alles selbst gemacht, von der Lösung wissenschaftlich-technischer Aufgaben über Projektierung, Konstruktion, Fertigung bis hin zu allen Prüf- und Instandhaltungsaktivitäten, für alles war das Betriebskollektiv zuständig und qualifiziert. Im Westen wird das ja weitgehend an Fremdfirmen in Auftrag gegeben. Anfangs habe ich ja auch den Rheinsberger Block mit aufgebaut, da war ich für Temperaturmessung im Reaktor zuständig, hier habe ich später dann die Vormontage geleitet bei Block eins und zwei, ich bin ja schon seit 1973 hier.

G: Da haben Sie ja eine komische Karriere gemacht.

I: Ja... na ja (lacht). Damals war ich noch FDJ-Sekretär — stellvertretender —, aber in die Partei bin ich nie eingetreten, denn als ich damals anfing, nach dem Studium, da hieß es: Wir haben so viel Intelligenz in der Partei wie Genossen; was wir brauchen, sind Arbeiter. Dann, später, sagten sie wieder: Jetzt mußt du aber eintreten, ein Leiter müßte eigentlich schon Genosse sein! Und da wollte ich nicht mehr. Irgendwie hat man mich dann vergessen.

G: Und heute erklären Sie den Besuchern die Vorzüge der Kernenergie in einem stillgelegten Atomkraftwerk.

I: Na ja... da werde ich natürlich oft gefragt nach den Risiken, die es gab, und nach den Gefahren der Kernenergie überhaupt... Was das KKW Greifswald angeht, so waren unsere kraftwerksbedingten Radioaktivitätsabgaben sehr gering, und sie verursachten Strahlenbelastungen in der Umgebung, die um mehrere Größenordnungen unterhalb der natürlichen Strahlenbelastung lagen und somit weit unterhalb des in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzwertes. Aber mal eine persönliche Meinung dazu, sehnse mal, das ist doch eine ganz feine und runde Sache, man schmeißt einmal im Jahr den Reaktor voll Brennstoff — legt ihm sozusagen ein Bündelchen Brennstäbe vor — und schon läuft's von alleine. Alle Unfälle, die passiert sind, waren rein subjektiv verschuldet. Wenn die Havarievorsorge stimmt und das Personal seine Sache versteht, ist das die sicherste und sauberste Energie der Welt. Übrigens, wir haben auch ein Kabinett zum Thema Sicherheit, in dem wir alle diese Fragen darstellen und erläutern können für fachlich vorgebildete Gruppen... und draußen im Vorhof dann noch die Exponate „Kernenergie zum Anfassen“...

G: Haben Sie die Ausstellung aufgebaut?

I: Nein, nein, das waren meine Vorgänger, ich hatte ja immer noch die Instandhaltung, dann mußten unsere Leute gehn... mehr als 3.000 Mann sind wir jetzt weniger, etwa tausend sind noch da und werden gehalten, viele sind so um 45 bis 50 rum, schwer vermittelbar. Und ich habe, wie gesagt, das Glück gehabt, hier diese Stelle zu bekommen. Aber vielleicht wird ja mal auch wieder was besser bei uns. Wir haben uns ja — die Energiewerke Nord — als Standort für ein internationales Fusionsforschungsvorhaben beworben, aber ob wir gegen Frankreich, Italien... die Westdeutschen... konkurrieren können, weiß ich nicht, jedenfalls haben wir eine Menge Standortvorteile, wissenschaftlich, technisch, personell, verwaltungsmäßig, nicht mal Kühltürme müßten gebaut werden. Da wären schon mal für fast tausend Leute Arbeitsplätze in Aussicht, dann kommt hier wieder etwas Leben auf...

G: Ich hab' gesehen, es steht alles leer und offen hier hinten.

I: Ja, ja, ein Teil des Geländes ist bereits vermietet, an Fremdfirmen, die nutzen die Lagerhallen. Ringsum haben sich ja Westfirmen angesiedelt. Die hoffen, Aufträge zu bekommen von der „Verwertungs-GmbH“ und „Stillegungs-GmbH“.

G: Und weshalb gibt es so viele Katzen hier?

I: Das haben Sie bemerkt? Ja, die leben rund ums KKW. Ursprünglich wurden sie mal angeschafft von den Arbeitern in den Baubaracken, dann hat unser Betriebsarzt angefangen, sich für sie zu interessieren. Der hat sie genau beobachtet, ihr Verhalten, ihren Gesundheitszustand, Fell usw., der benutzte sie sozusagen als Indikatoren für radioaktive Belastung bzw. Nichtbelastung. Die glänzten immer, die Tierchen, und waren kerngesund, der hatte sein Vergnügen dran, wurde nachher nur noch „Katzendoktor“ genannt, ja, und dann war alles aus... wie viele es in der Zwischenzeit geworden sind oder wie viele verhungert sind, das weiß keiner... Hier hatte man ja andere Sorgen, da konnte sich niemand drum kümmern. Und nun, es ist erst ein paar Tage her, hat der Greifswalder Tierschutz angefangen, sich um sie zu kümmern, zweimal in der Woche, glaub' ich, kommen sie zum Füttern, ich habe gehört, daß man sogar zwei von Bonn bezahlte ABM- Kräfte bekommen hat, einer soll Ingenieur sein, der andere ein ehemaliger Polizist...

(Während des Redens hebt er zerstreut ein paarmal den Berstschutzdeckel eines KKW-Pappmodells hoch und setzt ihn wieder drauf. Innen ist die gesamte Technik farbig nachgebildet.)

G: Da hat man ja an alles gedacht bei diesem Modell hier...

I: Das hier... mhm... das habe ich selbst gebastelt.

G: Aha, das ist interessant. Gibt es da Vorlagen, oder haben Sie es entworfen?

I: Da gibt es verschiedene Modellbogen, drüben bei Ihnen im Westen. Wir hatten so was leider nie! Das ist kein Problem, man muß nur alles auseinanderschnippeln, zurechtbiegen und richtig zusammenkleben. Mich beruhigt ja das Basteln, es macht mir Freude. Da, sehn Sie, die Turbine ist drin, da ist der Reaktor, Meßstutzen und der Primärkreislauf, alles! Ich habe schon darüber nachgedacht, wir sollten eigentlich unser eigenes Modell entwickeln. Der „WWEr-440/W-230“, unser Druckwasserreaktor auf Schnittbogen, das wäre ein Ding! Da gäb's ja auch in der Sowjetunion sicherlich Interessenten. Schiffe habe ich ja auch schon mal gebastelt, mit Takelage und allem, aber solche Modelle hier sind mir, ehrlich gesagt, viel lieber, da kennt man sich wenigstens aus.

G: Und sonst, sind Sie zufrieden mit den neuen Verhältnissen?

I: Hier im Betrieb?

G: Nein, mit den gesellschaftlichen, meine ich.

I: Na ja... nicht so recht, mein hauptsächlichstes Gefühl dabei ist Angst. Alle haben jetzt diese Angst. Das ist nicht so einfach ohne Arbeit, ohne Aussicht, plötzlich nur noch zu Hause zu sitzen. Ich habe ja Glück gehabt, aber meine Frau ist betroffen, die ist arbeitslos.

G: Was hat sie denn gemacht?

I: Sie war Sachbearbeiterin bei der Universität Greifswald. Sie ist nun auch schon 47, da kann man ja nicht mehr groß von vorne anfangen. Momentan stehen wir finanziell noch ganz gut da, weil ich ja hier Arbeit habe, aber wenn das mal zu Ende ist... Viele Kollegen sind ja rübergegangen und haben sich bei den Kraftwerken beworben, aber ich habe immer gehört, daß sie entweder überqualifiziert waren für die ausgeschriebenen Stellen oder zu alt. Man kann eigentlich rennen, wohin man will, immer rennt man gegen eine Wand. Aber solange hier noch alles stehenbleibt, bin ich ja froh und glücklich... man braucht uns ja, wir machen praktisch die Information für die BRD-Kraftwerke mit, haben zum Beispiel viel bekommen aus Biblis, unten im Treppenhaus steht noch ein Globus— Sie haben ihn sicherlich gesehen—, der ist ein Geschenk aus Bonn. Wer das wissen will, der kommt ja im Prinzip zu uns, wir haben dort im Schauraum 27m2 reine Ausstellungsfläche, hier im Flur sind es 2,5m2 und im Sicherheitskabinett sind es noch mal 24m2. Wir können Filme vorspielen und Videomaterial, und wir haben einen Konferenzsaal für 70 Personen, für unseren Informationsauftrag...

G: Sie gehen also nicht in den Westen, sondern werden hier ausharren?

I: Ich glaube, ich bin zu alt. Aber man kann ja jetzt bei uns hier auch alles bekommen, alles kaufen, überallhin reisen... jedenfalls könnte man, wenn das Geld da wäre.

G: Die finanziellen Grenzen sind auch ziemlich undurchlässig.

I: (lacht) Das stimmt, das haben wir gemerkt. Man hat uns ja eine Menge versprochen, damals, na ja, ein paar Busfahrten haben wir schon gemacht. Einmal ging's nach Paris, drei Tage übers Wochenende, für dreihundertfünfzig, sowas. Das war interessant, muß ich sagen, obwohl wir natürlich nicht viel gesehen haben. Und jetzt waren wir noch in Venedig, Anfang März. Das ist ja eine sehr schöne Ecke da unten. Aber das waren eben solche Werbereisen, die ja viel zu kurz und oberflächlich sind, deshalb waren sie auch so billig. Trotzdem, es war schon ein Erlebnis für uns.

G: Haben sie was gekauft?

I: Na ja, selbstverständlich! Solche Decken haben wir gekauft...

G: Lamadecken!

I: Ja, sehr warme, schöne Decken aus Lamahaar, allerdings waren sie nicht ganz billig...

G: Im Kaufhaus hätten Sie wesentlich weniger dafür bezahlt.

I: Das ist schon klar, da ist ja dann auch keine Reise und nichts mit dabei. Wir haben uns eben gedacht, unsere Freunde und Nachbarn rechts und links, die haben schon und sind zufrieden, da versuchen wir es einfach auch mal. Über dreitausend für zweimal haben wir dann doch ausgegeben, weil wir ja noch die Deckenunterdecken dazugenommen haben, die mit dem Magnetstreifen...

G: Magnetstreifen?

I: Das soll irgendwie gegen Wasseradern abschirmen...

G: Gegen Strahlen...

I: Ja ja, jedenfalls... wir sind sehr zufrieden mit den Lamabetten. Sie sind weich und hygienisch, ein ganz anderes Gefühl war das. Trotzdem, irgendwie haben wir früher besser geschlafen, aber wie soll man heute wissen, woran es liegt?