Das deportierte Leben

„Der zweite Schatten“: Ola Wats Erinnerungen  ■ Von Michaela Ott

So begann unser neues Leben. Gleich am nächsten Tag tauchte der Aufseher in unserer Baracke auf und erklärte: Kto ne rabotajet, to ne kuschajet (Wer nicht arbeitet, wird auch nicht essen), und er würde eher einen Besen fressen und an den lieben Gott anfangen zu glauben, als daß wir jemals wieder nach Polen zurückkehrten. Und gleich trieb er uns zur ersten Arbeit an. Schwer vorzustellen, ich in meiner städtischen Kleidung und in Pumps, denn in früheren Jahren habe ich nur solche Schuhe getragen, bei einer Arbeit, die darin bestand, daß man mit einer großen, schrecklich schweren Schaufel aus den über die Jahre angesammelten Schichten von steinhartem Kuhmist Quader ausstechen und zum Trocknen in die Sonne legen mußte, damit die Kasachen sie als Brennmaterial benutzen konnten. Diese Arbeit war sehr schwer für uns. Meine Pumps fingen bald an auseinanderzufallen. Die Hoffnung auf Brot baute uns auf. Wir erwarteten, daß man uns zu essen geben würde. Aber gleich am ersten Arbeitstag stellte sich heraus, daß davon überhaupt nicht die Rede sein konnte...“

Es erinnert sich Ola Wat, die achtzigjährige, in Paris lebende Witwe Alexander Wats, eines hierzulande kaum bekannten, im Vorkriegspolen aber berühmten Dichters, Futuristen und Kommunisten, mit zahlreichen Schriftstellern wie Anatol Stern und Tadeuz Peiper befreundet, mit Majakowskij bekannt, später von Viktor Schklowski und Czeslaw Milosz unterstützt. Nachdem Alexander Wats Erinnerungen 1989 in Frankreich unter dem Titel Mon siecle bei „l'age d'homme“ erschienen sind, liegen nun Ola Wats Erinnerungen unter dem Titel Der zweite Schatten in der gut lesbaren Übersetzung von Anna Leszczynska auf deutsch vor.

Das Vorkriegspolen, in dem Ola Wats Leben beginnt, ist in ihrer nachträglichen Schilderung ein Ort der Intellektualität und gegenseitigen Gewogenheit — obwohl mit ihrer Eheschließung 1927 umgehend die Schwierigkeiten beginnen. Als sie nach der Geburt ihres Sohnes Andrzej im Wochenbett mit dem Tod ringt, wird Alexander bereits wegen kommunistischer Tätigkeit als Chefredakteur der Literaturzeitschrift 'Miesiecznik Literacki‘ verhaftet. Vor den einmarschierenden Deutschen fliehen die jüdischen Wats nach Lemberg, wo sie 1940 von einem Schriftstellerkollegen an den NKWD verraten werden. Alexander wird inhaftiert, Ola wird mit Sohn nach Kasachstan deportiert. Die Polen, die mit ihr den Viehwaggon teilen, sprechen nicht mit ihr, da sie sie aufgrund der kommunistischen Tätigkeit ihres Mannes für eine Spionin halten.

Als Alexander Wat zwei Jahre später, 1942, amnestiert wird, erlaubt man der Familie, gemeinsam im Verbannungsort Alma-Ata zu leben: Aufgrund der Unterstützung durch die polnische Vertretung, die ihnen Essenskarten, Arbeit und Wohnung zukommen läßt, sind nicht nur die Lebensumstände für einen Moment erträglicher — ebenfalls dorthin verbannte wie Viktor Schklowski helfen durch geistige Unterstützung wie praktisch. Ola Wat, die sich zwei Jahre lang in der kasachischen Steppe als Frau mit Kind behauptet hat, fällt in ihrer Beschreibung ab da allerdings in die Rolle der dienenden Ehefrau zurück. Nach dem Muster „mein Leben für einen berühmten Mann“ sieht sie zunehmend alles durch die Augen von Alexander, er wird angebetet und heroisiert, besonders anläßlich der Versuche der Zwangssowjetisierung der Polen. Aus Furcht, nach Abgabe des Passes nie wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, weigern sich die Polen zunächst, sich sowjetisieren zu lassen, geben aber nach den im Gefängnis erhaltenen Schlägen klein bei — nur Alexander bleibt standhaft, muß weiterhin einsitzen und kommt auf ungeklärte Weise, vermutlich durch Intervention einflußreicher Freunde in Moskau, eines Tages doch plötzlich frei.

Ola Wats Konzentration auf die Familie und die Befindlichkeit ihres Mannes wirkt sich ungünstig auf die Darstellung ihres Lebens im Nachkriegspolen aus: Gesellschaftliche Konflikte der Zeit werden kaum berührt, man lernt die politischen Umstände nur als allgemeine „Widrigkeiten“ kennen, die zuletzt ihr Leben ruinieren. Die Wats, hoffnungsvolle Heimkehrer, müssen erfahren, daß mit der Heimat für sie nichts gewonnen ist. Alexander, zunächst Chefredakteur des staatlichen Verlags, wird wegen kritischer Äußerungen seiner Ämter enthoben; als er sich gegen den sozialistischen Realismus ausspricht, wird er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen: Damit beginnt die Geschichte seiner sechzehnjährigen Krankheit, die 1967 in den Selbstmord führt. Der einzige ihm verbliebene Freund und Gesprächspartner in diesen Jahren ist der polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz, der auch das Vorwort zu seiner Autobiograhie geschrieben hat.

Die zunehmende Isolierung ist wohl einer der Gründe, warum die Außenwelt in Olas Darstellung fast gänzlich ausgeblendet bleibt. Als hätte die von ihr ab da übernommene Pflegerinnenrolle ihr den Blick über das Krankenbett hinaus verwehrt, berichtet sie nicht einmal über das Schicksal ihrer Verwandten. Nur Tadeuz Borowski, ein polnischer Schriftsteller, der Auschwitz überlebt hat und 1951 Selbstmord beging, kommt mit einem ausführlichen Zitat zu Wort: „Wenn wir hier zusammen sitzen, so doch nur deshalb, weil wir dort in Auschwitz den Sterbenden, die nicht mehr die Kraft hatten, ihr Brot zum Mund zu führen, das Brot wegnahmen. Wir haben sie nicht zugedeckt. Wir nahmen ihnen die Decken weg... ihrem Tod haben wir zum größten Teil unser Leben zu verdanken...“

Durch Reisen versuchen die Wats ebenso vor Polen wie vor Alexanders unerträglichen Schmerzen zu fliehen, sie lassen sich zuletzt in Berkley nieder, wo Alexander, der schon nicht mehr schreiben kann, seine Lebenserinnerungen auf Tonband diktiert. Nach seinem Tod wird Ola sie niederschreiben und dann endlich Zeit finden, sich ihrem eigenen Leben zu widmen: Ihre Autobiographie ist 1984 zunächst in dialogischer Form im Londoner Exilverlag „Puls“ erschienen, die polnische Prosavorlage von Der zweite Schatten wurde erstmals im polnischen Verlag „Zone“ publiziert.

Ola Wat: Der zweite Schatten , Verlag Neue Kritik, 232 Seiten, m. Abb., brosch., 34,- DM.