Ende der Reformprojekte in Haiti

Die Putschregierung wird unverhohlen von vielen Reichen unterstützt/ Der Weg aus der Unterentwicklung ist blockiert  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Bei Karl Gerner, dem Chef-Agronomen des schweizerischen Hilfswerks Helvetas in Haiti, läutet das Telefon. „Schlechte Nachrichten“, sagt er nach dem Gespräch, „das Zentrum der Bauernorganisation wurde völlig geplündert.“ Gerner selbst hat sein Projekt in der Nähe von Hinche, im zentralen Hochplateau von Haiti, am Tage nach dem Putsch verlassen. Jetzt darf er gar nicht mehr hin. Denn die Mitarbeiter schweizerischer Institutionen unterstehen den Sicherheitsbestimmungen der französischen Botschaft: Solange Ausnahmezustand herrscht und die Machtfrage im Land nicht geklärt ist, darf keiner hinaus. Wer den Bereich der Hauptstadt verläßt, verliert den Versicherungsschutz.

So erfuhr Gerner erst zwei Wochen nach dem Staatsstreich, der den verfassungsmäßigen Präsidenten Aristide ins Exil zwang, vom Schicksal seiner Arbeitsstätte: Gruppen bewaffneter Männer seien in die Büros eingedrungen, hätten alle Möbel mitgenommen oder zertrümmert. Ein Diaprojektor, ein Computer, eine kleine Druckerei, eine Fachbibliothek... alles verloren. Zwei Dutzend Schweine wahrscheinlich längst verspeist. Der Informant selbst, einer der Anführer der regionalen Bauernorganisation, mit der Helvetas arbeitete, mußte untertauchen. Bauern, die sich organisiert haben und gar Kritik an den herrschenden Zuständen zu äußern wagen, gelten als Kommunisten. Und seit dem Militärputsch haben die rechtsextremen Gruppen, die ehemaligen Mitglieder der gefürchteten Tontons Macoutes, der Privatmiliz der Duvalier-Diktatur, und andere Günstlinge des alten Regimes wieder Aufwind. Was unter den neuen Verhältnissen von der mühsamen Arbeit des Erosionsschutzes und der Bewußtseinsarbeit bei den Bauern übrigbleibt, kann noch keiner voraussagen.

Helvetas arbeitet aus Prinzip nur mit Partnern zusammen, die bereits organisiert sind und von selbst die Notwendigkeit von Strukturänderungen erkannt haben: im konkreten Fall angepaßter Landbau und die Anlage von natürlichen Schutzgürteln. Die Schweizer Experten helfen dann vor allem mit Fachwissen, Ausbildung einheimischer Fachkräfte und Promotoren, Startfinanzierung und weichen Krediten. Nach ein paar Jahren soll ein Betrieb auf eigenen Füßen stehen können.

Das Projekt „Agro-Sylvicole“ bei Hinche als Land- und Forstwirtschaft zu übersetzen, wäre verfehlt, denn die eigentliche Aufforstung bleibt ausgespart. „Von den verarmten Bauern kann man nur Dinge verlangen, deren Nützlichkeit kurzfristig erkennbar ist“, erklärt Gerner. Die Funktion des Baums über seine Verwendbarkeit als Brennholz hinaus, ist zu abstrakt. Die fortschreitende Entwaldung hat Haiti an den Rand des ökologischen Zusammenbruchs gebracht. Einst zu 80 Prozent mit Wäldern bedeckt, ist Haiti heute fast völlig baumlos: kaum drei Prozent des 27.000 Quadratmeter großen Landes sind bewaldet. Der Raubbau an Edelhölzern begann schon im vorigen Jahrhundert. Während der dreißigjährigen Duvalier- Diktatur wurden auch die Pinienwälder abgeholzt. Holzkonzessionen ohne jede Aufforstungsauflagen wurden an Mitglieder des Präsidentenklans vergeben. Und das Grenzgebiet zur Dominikanischen Republik ließ der Diktator Mitte der sechziger Jahre abwalden, damit sich dort keine kommunistischen Rebellen verbergen konnten. Heute sind die Armen und die Ziegen die größten Feinde der wenigen verbliebenen Bäume. Da Haiti über keine eigenen Energieressourcen verfügt, kochen auf dem Land und in den städtischen Elendsvierteln praktisch alle Familien mit Holz oder Holzkohle. Für die Ärmsten ist die Herstellung und der Verkauf von Holzkohle eine der wenigen Erwerbsquellen. Selbst die großen Rumbrennereien kennen kein anderes Heizmittel. Und die umherlaufenden Ziegen verspeisen schließlich jeden Schößling, der aus dem Boden sprießt.

Der 39jährige Gerner, ein Afrika- erfahrener Agronom aus Grevenbroich bei Düsseldorf, hatte im Vorjahr das Projekt bei Hinche übernommen. Von den rund 15.000 Mitgliedern der Bauernorganisation hat inzwischen jeder Zehnte auf seinem Grund die neuen Techniken zum Erosionsschutz übernommen. Da die meisten Bauern auf Hanglagen arbeiten, empfiehlt man ihnen die Anlage mechanischer Barrieren, die ein Abrutschen der Erde verhindern. Gleichzeitig werden Hecken, also biologische Barrieren, angepflanzt, die nach zwei Jahren die Funktion der inzwischen abgenützten Erd- oder Steinmauern übernehmen können. Um die Äcker werden schnellwüchsige Bäume gepflanzt, die den Boden weiter festigen und die Kulturen vor Wind und Wasser schützen sollen.

Immer mehr Bauern lassen sich von den Vorteilen dieser Techniken überzeugen, denn selbst in den vergangenen Trockenjahren war der Ertrag der geschützten Felder deutlich höher als der der traditionell bearbeiteten. Vom Verlangen nach rein wirtschaftlicher Ertragsverbesserung zu politischen Forderungen ist es kein weiter Weg. Denn nur ein Bauer, der auf eigenem Grund arbeitet, ist auch zu Investitionen wie Düngung oder Beforstung bereit. Ein Pächter laugt den Boden aus, solange der etwas hergibt, und gibt ihn dann zurück. Soll sich die Lage der Kleinbauern mittelfristig verbessern, dann kommt man um eine Agrarreform nicht herum. Denn jeder zweite Bauer arbeitet auf fremdem Grund. Präsident Aristide sprach viel von Landreform, doch sein Landwirtschaftsminister Sevrain hatte bis zuletzt noch keinen Umverteilungsplan entwickelt. Unter der Putschregierung, die von den Reichen Haitis unverhohlen unterstützt wird, darf man mit Reformprojekten wahrscheinlich nicht mehr rechnen. Der vorsichtige Weg aus der strukturellen Unterentwicklung ist vorerst blockiert.