Frontstadtentscheidung gegen Wladimir Iljitsch

■ Für die Illusion des erinnerungslosen Neubeginns muß das Lenin-Denkmal im Berliner Stadtteil Friedrichshain weichen

Der Abriß geht in Ordnung. Jeder andere Umgang der wiedervereinigten Stadt mit der monumentalen Lenin- Statue im Berliner Stadtteil Friedrichshain hätte überrascht. Sie stehenzulassen hätte ein Maß an Gelassenheit gegenüber der DDR-Geschichte und ihren provokanten Relikten suggeriert, über das die Stadt nicht verfügt. Der Gesamtberliner Stimmungslage in Form und Inhalt angemessen war denn auch der Beschluß der Friedrichshainer Bezirksverordneten, die den Senat im September dieses Jahres ersuchten, die „umgehende, sorgfältige Entfernung des Lenin-Standbildes“ zu ermöglichen. Lenin wurde daraufhin von der Denkmalliste gekippt, und die Ostberliner Sozialdemokratie, die sich gegen die West-Genossen für den Abriß stark gemacht hatte, feierte — nach der Durchfahrtgenehmigung für Busse und Taxen fürs Brandenburger Tor zur Jahresfeier der Einheit — ihren zweiten historischen Erfolg. Heute ist es soweit. Mit einer Provinzposse desillusioniert die deutsche Hauptstadt ihre metropolenverträumten Anhänger. Auch Bonn hätte sich nicht besser blamiert.

Dabei wäre doch dem im Jahrhundertkonflikt erfolgreichen Westen mit dem Friedrichshainer Lenin ein weiterer eindrucksvoller Propagandist zugewachsen. Längst hat sich dessen heroischer Gestus, schon immer verfremdet durch die umstehenden, trist-ruinösen Plattenbauten, gegen die totalitäre Vision gekehrt, für die er einst warb. Als anachronistischer Findling einer vergangenen Epoche zeugt er nur noch von deren Untergang.

Am Lenin-Denkmal läßt sich das Risiko monumentaler Propaganda erfahren. Eben noch Ausdruck entschlossener Gewaltsamkeit, demonstriert er heute deren Hybris. Ohne die Macht des Regimes, das ihn errichten ließ, ist Lenin der Lächerlichkeit preisgegeben. Dieses ironisch-versöhnende Erlebnis haben die aufgeregten Berliner Volksvertreter mit ihrer Abrißentscheidung den Bürgern der Stadt verwehrt. Kein Sinn für Dialektik, die die Intention der Denkmalstifter in ihr beschämendes Gegenteil verkehrt. In solch verkniffener Atmosphäre bleibt nur eins: Das Ding muß weg.

Dabei hätte es nurein legitimes Ende für den Berliner Lenin gegeben: den Abriß im revolutionären Sturm, die Realisierung der Herbstparole — „Wir sind das Volk“ — in einem symbolischen Akt, in dem das Ende der Unterwerfungsbereitschaft spektakulär zum Ausdruck gekommen wäre. Doch der Umbruch in der DDR blieb friedlich — gegenüber den Repräsentanten der Macht wie ihren Symbolen. In diesem Sinne war die Schärpe mit der Parole „keine Gewalt“, die der Statue noch in den letzten Tagen von ihren Verteidigern umgelegt wurde, eine hintersinnige, wenn auch hilflose Reaktion. Sie verfremdete Lenin nicht nur mit einem von ihm nie geteilten Credo, sondern klagte zugleich das Recht des friedlichen Umbruchs auf die von ihm verschonten Symbole der Vergangenheit ein. Doch wo es um den guten Ruf der Stadt geht, den ihre Oberen mit der Existenz des Monuments gefährdet sehen, bleibt kein Raum für solcherart Toleranz.

Statt dessen: eine Frontstadt-Entscheidung. Die ruft freilich nicht nur die Herbst-Akteure auf den Plan, deren Zwangslage schon daran deutlich wird, daß sie heute mit Lenin ein Stück ihrer Geschichte verteidigen müssen; auch die letzten aufrechten Leninisten Berlins greifen jetzt auf die Idee des Denkmalschutzes zurück, um für ihre ungebrochene Überzeugung zu demonstrieren. Sie nehmen das Urteil über Lenin als eine der seltener gewordenen Chancen für ihr verbogenes „Wehret den Anfängen“. Sie warnen vor der Bücherverbrennung, die dem Sturz des Monumentes schon bald folgen werde. Souverän ignoriert werden die Giftschränke für verbotene Literatur, die überall dort dazugehörten, wo Lenins Ideen sich einst durchsetzten.

Doch daß der Berliner Lenin auch von denen verteidigt wird, die dem System, das er repräsentierte, insgeheim oder offen nachtrauern, macht die Motive der Abrißfraktion nicht besser. Schon daß man in der alt- neuen Hauptstadt auf die symbolische Demonstration nicht verzichten will, stimmt bedenklich. So mischt sich die Lust der Sieger auf immer neue Rituale ihres historischen Erfolges mit ungutem Populismus. Mit der „sorgfältigen Entfernung“ erfüllen sie den Untertanen von einst einen Herzenswunsch. Sicher, die Leninisten waren in Ost-Berlin immer in der Minderheit. Aber an Fackelträgern, Fahnenschwenkern und widerspruchslosen Marschkolonnenteilnehmern hat es bis zum Schluß nie gefehlt. Als Denkmal für vierzigjährige, widerspruchslose Zumutung hätte es schon Sinn gemacht. Kein Zweifel — auch mit Lenin stehen die Chancen fürs selbstkritische Erinnern nicht sonderlich gut. Doch für einige hätte die Statue den monumentalen Störenfried gegen den erinnerungslosen Neubeginn schon abgeben können. Ohne ihn und die vielen anderen realsozialistischen Erinnerungsstücke, die ihm bald folgen, wird das neudeutsche Vergessen einfacher.

Dabei hat doch das erste Jahr der Einheit gezeigt, daß sich die allzu glatte Hoffnung auf den störungsfreien Übergang ohnehin nicht erfüllt. Statt der Realisierung der gesellschaftlichen Einheit lamentiert die Nation über wechselseitige Ressentiments, fordern vierzig Jahre realsozialistische Sozialisation ihren Tribut. Von den einen unterm Stichwort „DDR-Identität“ trotzig-hilflos gewendet, wird sie von den anderen immerhin noch als Reibungsverlust im Anpassungsprozeß erfahren. Daß die psychischen Verwüstungen des Realsozialismus das System überdauern, daß die deutsch-deutsche Verschmelzung Zeit braucht, auch dafür hätte das Monument stehen können. Doch auch der Vorschlag einer Efeu-Überwucherung, an der sich vielleicht über Jahre hinweg die gesellschaftliche Metamorphose bis zum völligen Verschwinden Lenins hätte ablesen lassen, wurde von den Tabula-rasa-Befürwortern verworfen.

Dennoch, zu einem entschlossenen Vorgehen konnten sich am Ende auch die Geschichtsentsorger nicht durchringen. Keine brutale Abrißbirne wird den roten Marmor knacken. Statt dessen wird der russische Revolutionär sorgfältig zersägt, inventarisiert und aufbewahrt. Anders als bei dem von Sozialisten gesprengten Stadtschloß, nach dessen verstreuten Überresten seit Monaten die Suchtrupps fahnden, ist der Abriß Lenins also nicht irreversibel. Interpretieren wir den sorgsam-zukunftsoffenen Umgang mit den Leninschen Quadern wohlwollend als kleine Geste des Unbehagens. Matthias Geis