Auf russisch gedacht

■ Mozartkugeln, tausendkiloweise * Zeit, die Erwähnung von Mozarts Namen bei Strafe zu verbieten

Das erste Mal sah ich sie zu Beginn der achtziger Jahre (wir lebten im damaligen Leningrad und waren die »Nichtreisendürfenden«). Ein uns bekannter Musikant brachte uns von seiner Fahrt durch Deutschland ein Souvenir mit: eine elegante achteckige Schachtel (dunkel-kirschfarbiger Hintergrund und Goldumrandung) mit einem Mozart-Porträt auf dem Schachteldeckel. Drinnen lagen in Goldfolie eingewickelte Kugeln, auf jeder ein Medaillon mit dem feierlich verzierten Portrait des Komponisten in paradescharlachrotem Gehrock, mit schneeweißem Spitzenschaum auf der Brust, einer sorgfältig gepuderten Perücke mit akkurat gelegten Locken — wunderliches Konfekt.

In der Tat, sie hatten einen göttlichen Geschmack, diese vielschichtigen, außen mit einem süßen Schokoladenmantel umhüllten Pralinées, die im Mund zu tauen schienen. Doch was hat Mozart mit all dem zu tun? Die Idee, das Konditorwunder mit seinem Namen und Profil zu schmücken, ist belustigend und extravagant zugleich, vielleicht sogar etwas lästerlich (letzteres, möglicherweise, bewirkt wohl eine gewisse Geschmacksverstärkung). In Rußland wird Mozart verehrt, sein Name findet sich in der Begriffswelt wie Genie, Gott, Vollkommenheit, Harmonie oder Geheimnis wieder — ungefähr seit Puschkins Zeiten und seiner kleiner Tragödie Mozart und Salieri.

Vor ungefähr 150 Jahren hatte der russische Adelige, Literat und Musiker Alexander Ulybyschew seine — die erste in Europa erschienene — dreibändige Studie über das Schaffen von Mozart herausgegeben, das er mit unübertrefflicher musikalischer Meisterschaft charakterisierte. Tschaikowski hat sein ganzes Leben lang Mozart verehrt. Georgi Tschitscherin (aller Wahrscheinlichkeit nach der letzte in Rußland musizierende Diplomat, in den 20er Jahren Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten) widmete als Kenner und genauer Kritiker Mozart einen glänzenden Essay: Tschitscherin sah in Mozart einen kühnen Schöpfer und einen lebendig wichtigen Zeitgenossen, seine geistige Orientierung...

Und nun — Berlin im Mozartjahr. Die Auswahl an Süßigkeiten höchster Qualität, von Mozart präsentiert, ist ins Ungeahnte ausgeufert: in jeder beliebigen Konditoreiabteilung eines jeden beliebigen Geschäfts — Berge eleganter Schachteln und Schächtelchen aller denkbaren Formen und Ausmaße, mit Bändchen, Rüschen und anderen Verzierungen und in jeder — Mozartkugeln. Kalorien hoch Mozart. Und in Kilogrammen: Zeitungen verbreiten geflissentlich, daß die gesamte von Mozart stammende Musik, von herausragenden Interpreten auf Compact-Discs aufgezeichnet, ganze zwanzig Kilogramm wiegt und leicht in zwei Paketen davongetragen werden kann (daneben ein Foto von einem zufriedenen Käufer). Mozart in fast jedem Schaufenster — so in einem Friseurladen (mit Locken, die Mode). Mozart im Radio (täglich), in Schauspielen und Filmen. Mozart wird von jedem Orchester und jedem Solisten — den Stars in Galakonzerten und deren Schülern — gespielt. Sämtliche Operntheater — in Zyklen und vollständig — inszenieren Mozart. Mozart-Festivals und Wettbewerbe jagen einander.

Sie erobern die Welt — die ge»labelten« Mozartkugeln, in glänzender Goldfolie, standardisiert-gesichtslos, in einer Art neuzeitlich: Alles ist aufgeführt und gespielt, alles ist fixiert, alles ist auf Rille und CD gepreßt. Weißgott, es ist wirklich möglich, eine Kostbarkeit auszulöschen und jegliches Interesse daran zu verlieren, wenn sie in Tausenden von Kilogrammen und Kalorien aufgelegt und auf das Butterbrot der Welt geschmiert wird. Die Lawine, die abgefeuerten süßen Kartätschen des Erfolges und der Erreichbarkeit überflutet alles, Mozarts Geist entzieht sich, und er kann uns samt und sonders verloren gehen. Mit einigem Schauer betrachtet er den Überfluß, mit dem sein — per Auftrag des Mannheimer Reiß-Museums — Phantom-Portrait angefertigt wurde.

Ist es nicht eher Zeit dafür, ihn zum Geheimnis werden zu lassen? Damit er aufatmet und weiterlebt? Zumindest bis zum nächsten Jubiläum — das steht bereits in der zweiten Hälfte des XXI. Jahrhunderts an — wäre es nicht angebracht, eine Quarantäne einzulegen, selbst die Erwähnung seines Namens bei Strafe zu verbieten und eine überhohe Steuer für das Spielen seiner Musik zu erheben?

»Strengen sie sich nicht an«, lachte Mozart, furchtbar spöttisch... »O du gläubiges Herze, mit deiner Druckerschwärze, mit deinem Seelenschmerze...« Er schüttet sich aus mit seinem unvergleichlichem Lachen, der Amadeus in Milos Formans Film, blinzelt und nascht eine Schokoladenkugel mit seinem Bild, nimmt noch eine Hand voll eben jener, »geschnickelt, geschnackelt, spektakelt, schabernackelt, nicht lange gefackelt« — und löst sich auf im Dunkel des »magischen Theaters« von Herrmann Hesse. Unsterblich, was immer auch kommen mag. Maja Elin/Übersetzung André Beck