Wenn Frauen plötzlich nichts mehr verdienen

■ Am Ostberliner »Telefon des Vertrauens« versuchen Psychologen, die Belastungen durch die Deutsche Einheit aufzufangen/ Früher riefen Frauen an, wenn »Er« fremdgegangen war/ Jetzt geht es hauptsächlich um Probleme durch die Arbeitslosigkeit

Berlin. Die 49jährige Ostberlinerin ist verzweifelt. Wegen der politischen Überzeugung ihrer Eltern durfte sie nicht studieren. Sie wurde Sachbearbeiterin. Kurz nach der Wende flatterte die Kündigung ins Haus — unterschrieben von »gewendeten Parteibonzen«, die ihr zu DDR-Zeiten eine berufliche Karriere verbaut hatten. Seitdem ihr dann das Arbeitsamt wegen »zu hohen Alters« auch noch die Umschulung gestrichen hat, weiß sie nicht mehr ein noch aus.

Sie ist eine von vielen, die bei dem Psychologen Jörg Richter, Geschäftsführer des Ostberliner »Telefon des Vertrauens«, Rat und Hilfe suchen. »Die Leute fühlen sich vom Westen bedroht«, sagt er. Arbeitslosigkeit führe gerade bei labilen Menschen zu großen Schuld- und Schamgefühlen. Richter: »Viele Menschen kommen zu uns, weil sie nachts nicht mehr schlafen können oder stundenlang in der Stadt ziellos umherrennen. Manche Frauen bringen ihren Mann in unsere Krisenberatung, weil er immer öfter zur Flasche greift.«

Fast ein Drittel aller Anrufer wendeten sich mit psychosomatischen Krankheiten, Schlafstörungen, Kreislauf- und Magenbeschwerden sowie Depressionen an die Telefonseelsorge, sagt Richter. Nach langen Gesprächen ergebe sich als Ursache oft Verunsicherung durch neue Anforderungen am Arbeitsplatz und Arbeitslosigkeit. Auch Anrufe wegen finanzieller Notlagen seien sprunghaft gestiegen.

Die Konflikte in den Familien nähmen zu. Während die Frauen sich früher eher an das Beratungsteam wandten, weil »Er« fremdgegangen war, gehe es heute meistens um Geld. Manchmal führe Arbeitslosigkeit in den Familien zu regelrechten Machtkämpfen. »Die Männer trumpfen plötzlich auf, wenn die Frau nicht mehr mitverdient«, erklärt der Psychologe.

Mit etwa 20 bis 30 pro Tag sei die Zahl der Anrufe insgesamt konstant geblieben, sagt Richter. »Die Gespräche sind dafür aber viel länger und schwieriger.« Der größte Andrang herrsche zwischen 17 und 23 Uhr. Wegen der Anonymität sei das Telefon des Vertrauens und die ambulante Krisenberatung mit einer Ärztin und einem Psychologen für Ostberliner noch wichtiger als früher. »Die Leute trauen sich nicht mehr, zum Arzt zu gehen, wenn sie krank sind. Die haben Angst, das sich das herumspricht.«

Die Einrichtung wurde 1987 »vermutlich wegen der hohen Selbstmordraten« geschaffen, sagt Richter. Sie war nach Leipzig die zweite Beratungsstelle in der DDR. »Auf Anonymität haben wir immer sehr großen Wert gelegt. Aber ob wir Wanzen im Büro hatten, weiß ich natürlich nicht.« Karin Schlottmann/dpa