Tour d'Europe

■ Benzin — vom Tropfen zur Lache

Beim Kolonialwarenladen oder in der Apotheke kauften sich die Automobilisten um die Jahrhundertwende den Stoff, der ihre Vehikel in Gang setzte. Die Einzelhändler verkauften das Benzin in handlichen Fünf- und Zehn-Liter- Weißblechkanistern, für die unter anderem mit dem Slogan „Nur echt, wenn der Kanister plombiert ist“ geworben wurde. Im Jahr 1907 gab es in Deutschland keine einzige Tankstelle, der Beruf des Tankwarts war noch nicht erfunden und die Reparaturarbeiten an den rund 60.000 Kraftwagen des Landes wurden zum großen Teil von Fahrradspezialisten ausgeführt.

Furore machte in Deutschland 1910 die Einführung eines Kreditkartensystems durch die Vorläuferin der Esso-AG, die Deutsch-Amerikanische Petroleum-Gesellschaft. Schon nach wenigen Monaten gab es rund 5.500 Kreditkartenbesitzer, die an 400 Verteilerstationen ihr Benzin direkt vom Faß zapfen konnten. Die erste Straßenzapfstelle in Deutschland öffnete im April 1923 in Hamburg, während der großen Inflation, als auch die Treibstoffpreise ins unermeßliche stiegen. Sie hatte ein unterirdisches Bezinlager mit 1.200 Liter Fassungsvermögen und verfügte über eine Kurbelpumpe am Straßenrand. Um diese erste Tankstelle zu beliefern, waren noch Pferde nötig — sie zogen die Tankwagen.

Seither stieg die Zahl der Tankwarte und die der Kraftfahrer rasant. 1931 gab es 50.000 Tankstellen, 500.000 Autos und 800.000 Motorräder. 1939 waren es bereits 1,5 Millionen Autos und 1,8 Millionen Motorräder. Zwar kam im Zweiten Weltkrieg der Individualverkehr weitgehend zum Erliegen, doch schon Anfang der 50er Jahre gab es auf dem Gebiet der Bundesrepublik wieder 18.000 Tankstellen — nun allerdings mit elektrischen Pumpen, wesentlich größeren Vorratslagern und einem breiten Service-Angebot.

Anfang der 70er Jahre belieferten in der Bundesrepublik rund 50.000 Tankstellen die mehr als 11 Millionen Autos. Doch damit war der Zenit der Tankwarte auch überschritten. Nicht zuletzt aufgrund der „Erdölkrise“ öffneten immer mehr Mineralölkonzerne Selbstbedienungstankstellen, die Apparaturen wurden komplizierter und teurer und die Gesamtzahl der Tankstellen sank ein wenig. Die Zahl der Autos stieg jedoch weiter: In den letzten 20 Jahren hat sie sich mehr als verdoppelt.

Anstatt wie früher ihr Benzin beim Einzelhändler zu kaufen, versorgen sich heute Autofahrer in der Tankstelle mit Lebensmitteln. Doch trotz dergleichen Bequemlichkeiten dämmert es den meisten Autofahrern, daß die Stunde ihrer Lieblingsspielzeuge geschlagen hat. Bei einer Umfrage des EG-Meinungsforschungsinstitutes „Eurobarometer“ in diesem Jahr stellte sich heraus, daß europaweit 59 Prozent das Verkehrschaos in den Städten „unerträglich“ finden. Die Befragten wollen bessere öffentliche Verkehrsmittel (80 Prozent), mehr Fußgängerzonen (75 Prozent), Einschränkungen des Autoverkehrs (71 Prozent) sowie Einschränkungen der Parkmöglichkeiten (53 Prozent).

Wirklich durchgreifende Maßnahmen gegen den Individualverkehr finden jedoch kaum Zustimmung: 65 Prozent der Befragten lehnten zusätzliche Gebühren für Autofahrer ab, 80 Prozent sprachen sich gegen Benzinpreiserhöhungen aus. dora