Ein Hang zur Säuberlichkeit

York Höllers Bulgakow-Oper erstaufgeführt  ■ Von Frieder Reininghaus

Es gibt Sujets, die liegen in der Luft. Meister und Margarita zum Beispiel, der Roman, den der russische Arzt Michail Bulgakow in den dreißiger Jahren schrieb und bis zu seinem Tod im Jahr 1940 immer wieder umarbeitete, bietet sich zur Veroperung förmlich an. Schon vor mehr als zwanzig Jahren, als der Text in einer Moskauer Zeitschrift in Fortsetzung erschien, griff der Komponist Sergej Slonimski zu und vertonte zentrale Episoden des vielschichtigen literarischen Meister-Werks. Seine Oper konnte zunächst nicht aufgeführt werden, denn die Verhältnisse, die Bulgakow ironisch vorführte, dauerten an. Die Uraufführung wurde 1991 bei den Dresdner Maifestspielen nachgeholt.

Rainer Kunad, ein aus der DDR in die Bundesrepublik gegangener Tonsetzer, brachte seine Musik zu Meister und Margarita 1986 in Karlsruhe heraus; auch er hatte sich Bulgakows Roman bedient, weil er sarkastisch mit dem stalinistischen Terror und der Gängelung der Künste, mit der Lächerlichkeit der Literaturplanung und dem abergläubischen Vertrauen auf rationale Aufklärung und Atheismus abrechnete. Kunads musikalisches Kauderwelsch war freilich nicht geeignet, seiner Meister-Oper länger andauernden Erfolg zu bescheren.

Der bahnt sich nun mit einer dritten Veroperung des Stoffs an: Hans Neuenfels brachte 1989 in Paris York Höllers Version der Bulgakow- Story mit der artifiziellen Musik des vergrübelten Kölner Komponisten auf die Bühne des Palais Garnier, das sich mit dieser Produktion aus seiner Funktion als Großes Opernhaus der französischen Hauptstadt verabschiedete — es ist ja ein Theaterabend der Abschiede, den Höllers auf große Form und vielschichtigen Traditionsbezug verpflichtete neue Musik präsentiert. In Paris war man von der Wucht so viel östlicher Kunstfertigkeit durchaus angetan: von den Turbulenzen der Handlung, deren Brisanz sich auch ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des Romans mitteilt; vom elaborierten Aufwand der Partitur, in die elektronische Elemente aufgenommen sind und — allerdings vergleichsweise sparsam gesetzte — Zitate und Halb- Zitate.

Neuenfels ersparte dem westlichen Publikum im wesentlichen die Auseinandersetzung mit den Motiven des (Anti-)Stalinismus und mutete ihm keine Bilder von Verfallserscheinungen in Osteuropa zu. Er akzentuierte das Künstlerdrama, hob die Zerbrechlichkeit der Subjekte hervor und die Psychiatrisierung. Dabei tendierten die Bilder zum Selbstlauf.

Mit der ersten Inszenierung der Höller-Oper in Deutschland, die Friedrich Meyer-Oertel jetzt in Köln herausbrachte, wird das Verhältnis zwischen dem auch historischen Stoff und den ihm heute zugedachten Bildebenen nicht unbedingt besser. Keinen Augenblick ist zu erspähen, aus welch gebeuteltem Leben heraus der Arzt Bulgakow seine Spiegelungen der real-massiv sich etablierenden Zustände konzipierte. Keine Spur von „Einfühlung“ in das Milieu und in die Zeit der „Schauprozesse“ — eine Zeit und ein Milieu, in welchen die Wahrheitssucher der Spätantike (der Meister/Jeschua und Pontius Pilatus) als polemische Projektionen gegen eine von tiefster Lüge beherrschte Gegenwart aufgeboten wurden, in denen durch „wissenschaftliche Weltanschauung“ alle Mysterien der Menschheit mit der Machete beseitigt werden sollten. Gewiß deutet auch die Kölner Produktion an, daß sich da Stimmen gegen die Gleichschaltung der geistigen Aktivitäten und die Durchorganisation der Künste erhoben — und wie die Widerspruchsbereiten ihr Leben, wenigstens ihr berufliches Glück riskierten.

Die Kölner Bilder von Gottfried Pilz zitieren einige Motive aus der Stadtansicht der sowjetschen Hauptstadt und fügen sie in die absichtsvoll künstliche Raumgestaltung ein: die Mauer beispielsweise vor den glattgeschliffenen Marmorplatten, auf denen ein Blumenstrauß welkt, diese Mauer mit einsamer Sitzbank für die Annäherung des Magiers Voland an den Lyriker Besdomny und den Chefredakteur Berlioz erinnert an die Kreml-Mauer, vor allem, solange sie von sechs Stalin-Postern geschmückt ist; später steht sie als Symbol für das Eingeschlossensein und die hohen Mauern der nicht-reformierten östlichen Psychiatrie. Die vorbeidefilierenden Verhaftungskommandos verweisen auf den konkreten Ort und die bestimmte Zeit. Doch schon die Kantine des Schriftstellerverbandes erinnert eher an ein postmodern kühles Café als an eine Versorgungseinrichtung im Sozialismus.

Die fulminanten Lichteffekte, die die Enthauptung des Literatur-Tyrannen Marcel Berlioz durch die Straßenbahn begleiten, die mit aller Härte zuschlagenden Laser-Strahlen, welche den Vollbesitz fortgeschrittener technischer Möglichkeiten demonstrieren und zerplatzende Seifenblasen an eine Gaze-Wand zeichnen, geometrische Figuren und Stalin-Köpfe in Parteirot — das alles ist angewandte Kunst von heute (und durchaus auf dem Niveau ausgebuffter Werbeästethik). Überhaupt wird das Licht fast zum Hauptakteur; es sorgt dafür, daß die Produktion phasenweise aus ihrer grauen Kühle und aus der frostigen Distanz zu den ganzen, keineswegs nur ästhetischen östlichen Problemen abhebt. Oh hätte sie sich und uns doch die Psychiatrie-Betten erspart, die da in ordentlicher Siebener-Reihe hereinfahren! Überhaupt ist der überzogene Hang zur Säuberlichkeit diesem Stück fatal: der Verwesungsgrad der Verhältnisse, die offiziell ihre Jugendlichkeit propagierten, wurde von der Kölner Inszenierung in keiner Weise begriffen und der Ausstattung beigegeben.

Die Sache wirkt sauber gearbeitet, aber reißt nicht mit. Einiges blieb ganz matt — die Varieté-Szene beispielsweise mit ihren eskalierenden Taschenspieler-Tricks. Verschenkt. Oder der Festball bei Voland mit seinen Anklängen an frühbarocke Musik und die der Rolling Stones geriet zu einem recht sterilen Tanz der Spitzhütchen. Meyer-Oertel wollte mit Gottfried Pilzens Hilfe endlich einmal edle große Kunst machen. Zu diesem Zweck aber eignet sich Höllers keineswegs keimfreie Musik nur in ihren zurückhaltenden Passagen; sie verfügt ja über kräftige und deftige und unreine Momente (was ihr nicht als Mangel angekreidet werden sollte). Der zum Theater eingedampfte Meister mitsamt Margarita und Voland, den ganzen Figuren aus dem alten Judäa und dem nachrevolutionären Moskau — sie alle taugen zu den bloß edel sein wollenden Kunstabsichten nicht.

Lothar Zagrosek dirigierte den Meister und Margarita in Köln (wie schon die Pariser Uraufführung). Der Eindruck von der Musik, insgesamt vom ersten Akt, war diesmal weniger überzeugend; allzu zurückgenommen kam mir das Orchester vor. Gegen Höllers Komposition wurde eingewandt, daß ihre Gesangspartien weithin zu rezitativisch seien — aber ich hätte mir gewünscht, daß entschiedener rezitiert worden wäre. Die Kölner Produktion hob wahrlich nicht auf Flügeln des Gesangs ab, auch wenn Matteo de Monti, Marylin Schmiege und Richard Salter ordentliche Leistungen vorzuweisen hatten. Die Aufnahme der bemerkenswerten neuen Oper durch das Kölner Publikum war freundlich.