: Die Nato findet kein rechtes Feindbild
Von der flexiblen Antwort zur flexiblen Interpretation/ Die „Neue Strategie“ gibt es nicht ■ Von Andreas Zumach
„Neue Strategie“ oder — bescheidener — einfach „Abschlußkommunique“? Auch bei ihren letzten Beratungen im Vorfeld des Gipfels in dieser Woche in Rom konnten sich die Vertreter der 16 Nato-Staaten nicht einmal auf die Überschrift für die Texte einigen, die zum Abschluß des Treffens veröffentlicht werden sollen. Einige Beteiligte äußerten erhebliche Zweifel, ob sich die nach fast anderthalbjährigen Beratungen gefundenen Formelkompromisse der Öffentlichkeit tatsächlich unter der Bezeichnung „Neue Strategie“ verkaufen lassen. Zumal das eigentlich interessante Dokument, in dem die militärische Umsetzung der „Neuen Strategie“ festgelegt werden soll, noch immer nicht fertig ist.
„Mit dem heutigen Tage leitet unser Bündnis eine umfassende Neugestaltung ein. Die Nato wird eine neue Militärstrategie ausarbeiten.“ Mit diesem und zahlreichen ähnlichen Versprechen endete der Londoner Gipfel im Juni vergangenen Jahres. Seitdem wird in Brüssel an drei Dokumenten gearbeitet. Die Runde der ständigen Nato-Botschafter hatte das „Alliance Overall Security Concept“ zu entwerfen — eine politische Erklärung für den Nato-Gipfel in Rom. Ein von den Verteidigungsministern eingesetzter Ausschuß zur Erarbeitung der Strategie bastelte am neuen „Alliance Strategic Concept“. Dieser Text zur künftigen Nato-Strategie sollte ursprünglich das bisherige Dokument MC 14/3 ersetzen, in dem die seit 1967 gültige Strategie der „flexiblen Antwort“ niedergelegt ist.
Das interessanteste Papier wird in Zusammenarbeit zwischen dem Militärausschuß (dem höchsten militärischen Gremium der Nato), den drei Oberkommandierenden der Nato sowie einer aus der integrierten Militärstruktur des Bündnisses gebildeten „Arbeitsgruppe Militärstrategie“ unter Vorsitz des bundesdeutschen Oberst Wittmann erarbeit: die Umsetzung der militärischen Strategie der Allianz. Dieses Dokument wird das operative Konzept für die Nato-Streitkräfte enthalten, mit genauen Angaben über die künftigen Kommandostrukturen und Stärken der Streitkräfte sowie ihre operativen Einsatzaufgaben im Krisen- und Kriegsfall. Bisher liegen 200 Seiten Entwürfe vor, eine Verabschiedung ist noch nicht absehbar.
Geeinigt hat man sich inzwischen jedoch darauf, diesen Text — ähnlich wie das bislang gültige entsprechende Nato-Dokument — nicht zu veröffentlichen. Die Bundesregierung, die zunächst für eine Veröffentlichung plädierte, beugte sich schließlich dem Argument, nur ein Geheimdokument lasse sich genügend konkret formulieren.
Die beiden zur Veröffentlichung in Rom vorgesehenen Dokumente sind in weiten Teilen Versatzstücke der Kommuniqués des letzten Jahres. Darin wird die Nato als Zone der Ruhe und Stabilität mit entsprechender Ausstrahlung nach außen beschrieben. Die mit dem Namen des früheren belgischen Außenministers verbundene „Harmel-Formel“ vom „Frieden durch militärische Verteidigung und Dialog“ wird wiederholt, die Nato als Wertegemeinschaft und einzig funktionierende transatlantische Sicherheitsstruktur gewürdigt. Als künftiges Aufgabenfeld der Nato wird — ausgehend von einem „erweiterten Sicherheitsbegriff“ — neben militärischer Verteidigung auch die Behandlung ökonomischer, ökologischer und sozialer Probleme sowie die Rüstungskontrolle genannt.
Zukünftig sieht man sich mit folgenden „Risiken“ konfrontiert: die unstabile Lage auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion und deren Atomwaffen; die Krise in (Süd-) Osteuropa sowie nicht näher bezeichnete Risiken an der „Südflanke“ der Allianz. Noch nicht entschieden ist, ob und in welcher Konkretion sich die 16 Staats- und Regierungschefs darüber hinaus über weitere globale „Risiken“ und daraus erwachsene „Out-of-area-Aufgaben“ der Nato äußern werden. An diesem Punkt gibt es Diffenzen, unter anderem zwischen Bonn und Washington. Die USA, Großbritannien, die Niederlande und die Türkei wollen in Rom einen Beschluß durchsetzen, der die Nato-Staaten verpflichtet, der UNO bei zukünftigen Militäreinsätzen „logistische Unterstützung“ anzubieten. Auf der operativen Ebene hat die Nato bereits mit dem Beschluß zur Aufstellung „Schneller Eingreiftruppen“ Fakten geschaffen.
Allgemein und unverbindlich bleiben die Texte auch bei den anderen bündnisinternen Konfliktthemen: das Verhältnis der Nato zur KSZE wird — fast ein Jahr nach der Verabschiedung der Pariser KSZE- Charta für ein neues Europa — lediglich als „komplementär“ beschrieben. Der von den Außenministern Genscher und Baker vorgeschlagene „Kooperationsrat zur Liaison mit den osteuropäischen Staaten“ wird zwar erwähnt — nicht jedoch als feste Institution, sondern als von Fall zu Fall einzuberufendes Gremium. Hier setzten sich die Franzosen mit ihren Bedenken vor einer Aushöhlung der KSZE durch. Die Notwendigkeit einer „Europäischen Verteidigungsidentität“ wird zwar beschworen. Die diesbezüglichen — in der Allianz und in der EG — heftig umstrittenen konkreten deutsch- französischen bzw. britisch-italienischen Vorschläge bleiben jedoch unerwähnt.
Sehr vage sind auch die Formulierungen zur künftigen Funktion atomarer Waffen. Klar ist nur: die „flexible Antwort“ wird nicht durch ein neues Konzept ersetzt — trotz bevorstehenden Abzuges der landgestützten atomaren Artillerie und Kurzstreckenraketen aus Westeuropa, die bisher die untere Eskalationstufe der „flexiblen Antwort“ ausmachten. Die Dokumente betonen weiterhin die Notwendigkeit „substrategischer“ Atomwaffen — eine Formulierung, bei der sich sowohl die USA mit ihren flugzeuggestützten Atomwaffen wie auch Frankreich mit seinem A-Waffenarsenal wiederfinden können. Bei der Option auf den Ersteinsatz atomarer Waffen soll es bleiben. Ob die beim Londoner Gipfel benutzte Formel von den „Waffen der letzten Zuflucht („weapons of last resort“) beim Gipfel in Rom wiederholt wird, ist noch offen. Frankreich möchte die Formulierung kippen, da Mitterrand darin eine Einschränkung seiner atomaren Optionen sieht.
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