ANDREA ZANZOTTO

Es war Luigi Nono, der mich als erster nachdrücklich auf Andrea Zanzotto hinwies: Er sei „der wahre Dichter vom Veneto“. Sprache sei für Zanzotto Betonung der Einzelheit, aber auch „Mittel, das überfließen will“. Kurz darauf brachte er mir den Gedichtband Idioma (1986) und übersetzte mir die Anmerkungen Zanzottos: Idiom sei „als Fülle des ersten und unaufhaltsamen Sprechens zu verstehen, das wie ein einzigartiges Blühen ist, bis hin zum Gegenteil, dem Verschließen in der Einzelheit, das zum Lemma ,Idiotie‘ führt“.

Der 1921 im venetischen Pieve di Soglio geborene Zanzotto war bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung Mittelschullehrer und hat bis auf wenige Reisen seine Heimatregion nie verlassen. Er hat diesen „hypersedimentierten Boden“ immer wieder durchwandert oder mit dem Fahrrad durchquert. Das Lokale, der Dialekt des Veneto inspirieren seine Dichtung, die gleichzeitig höchst gelehrt wie kompliziert ist und, wie Montale sagte, „den wahren Kopfsprung in jenem Vor-Ausdrucksbereich wagt, der dem artikulierten Wort vorausgeht“. Der Regionalist, dessen topographische Angaben immer exakt sind, ist Avantgardist, der auf der Ebene der lautlichen Affinitäten eine Gedankenmusik vollbringt, die Nono zu dem Verdikt hinriß, es sei „die wichtigste italienische Lyrik seit Ungaretti und Montale“.

Idioma schließt Zanzottos Hauptwerk ab, eine Trilogie, die 1978 mitIl Galateo in bosco begann (daraus die hier abgedruckten Sonette) und 1982 mit Fosfeni fortgeführt wurde. Das Übersetzerteam Capaldi, Paulmichl und Waterhouse hat den bewundernswerten, ehrgeizigen Versuch unternommen, zu den experimentellen „Hypersonetten“ und den Dialektgedichten deutsche Entsprechungen in Hochsprache und Dialekt zu finden. Zanzotto, der immer am Ursprung der Sprache interessiert ist, hat Kindersprache untersucht, Dialekt, Kinderverse, Abzählreime. Ursprung der Sprache empfindet er als Gestammel, Abgrund, Schweigen — Schweigen wiederum als gewaltigen Wortschwall, der nicht zu dechiffrieren ist. „Meine Psyche lädt sich auf“, sagte er, und ist erdrückt „im Gefühl dieser Bipolarität von Sprache als innerem Fließen und Sprache hingegen, die im poetischen Augenblick absolute Sprache sein möchte“. So bewegen sich auch seine Gedichte zwischen den Polen Amnesie und Erinnerung, Schweigen und Versprachlichung, Aphasie und babylonischem Stimmengewirr. Joachim Sartorius

Bibliographischer Hinweis:

Gedichte in 'Akzente‘ 3/65 und 'Rowohlt Literaturmagazin‘ Nr. 17/86. Interview mit A. Zanzotto in 'Akzente‘ 5/88. Zum ersten Mal umfassend in deutscher Sprache vorgestellt wurde A. Zanzotto mit dem zweisprachigen Band „Lichtbrechung“, Droschl Verlag, 1987 (Üb.: Donatella Capaldi, Ludwig Paulmichl, Peter Waterhouse).

Von diesen drei Übersetzern stammen auch die hier abgedruckten Übersetzungen, mit Ausnahme von „Aus den „IX Ecloghe“, das Helga Böhmer übertragen hat.