DEBATTE: Woran Ignoranz erkannt wird
■ Von Abraham Melzer
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland schreibt am 1.11.91 in der „Allgemeinen“ unter der Überschrift „Woran Friede gemessen wird“ einen denkwürdigen Kommentar. Denkwürdig allein schon deshalb, weil es ihm gelungen ist, in einem langen Artikel, der sich mit der Konferenz in Madrid beschäftigt, in keiner einzigen Zeile, nicht einmal mit einem einzigen Wort die Palästinenser zu erwähnen, jene Menschen, die es offensichtlich gar nicht gibt, die wohl eine Erfindung der Antisemiten oder zumindest der Antizionisten sind.
Mit wem soll Israel Frieden schließen? Dazu hat sich Herr Galinski nicht geäußert, dafür aber wieder um so mehr vom Holocaust und der zweitausendjährigen Verfolgung der Juden geschrieben. Er ist stolz darauf, daß man die Israelis „Raufbolde“ nennt; er empfindet nach eigenen Worten „so etwas wie eine Genugtuung“ dabei. Und um zu beweisen, daß diese Bezeichnung wieder einmal „an der Realität vorbeigeht — produziert, um mit umgekehrtem Vorzeichen nach altbewährtem Grundmuster eine Gemeinschaft bloßzustellen, deren einziges Vergehen seit mehr als zweitausend Jahren ist, überleben zu wollen“, bemüht er wieder einmal die leidvolle Geschichte des jüdischen Volkes und suhlt sich wieder im Selbstmitleid.
Und er erklärt es auch mit einem kurzen Überflug über diese zweitausendjährige Geschichte: „Was war es denn, was die Israelis scheinbar in die Position der streitsüchtigen Raufbolde versetzt hat? Wer war der Schuldige? Waren es etwa die Bilu'im — die ersten Pioniere, die vor mehr als hundert Jahren in Palästina Zuflucht vor den Pogromen in Rumänien (Sie kamen aus Rußland; A.M.) gesucht und gefunden hatten? Oder die danach folgenden Wellen von Auswanderern aus Rußland und Polen, die im gleichen Maße anschwollen, in dem die Judenverfolgungen an Brutalität zunahmen? Waren es schließlich die Flüchtlinge vor der Todesindustrie des Adolf Eichmann? Und womit haben sie sich schuldig gemacht?“
Nein, Herr Galinski, diese Juden sind nicht die Schuldigen. Schuld sind sicherlich die Palästinenser, daß sie ausgerechnet dort lebten, wo die Juden Schutz gesucht haben. Sie sind nie gefragt worden, ob sie bereit wären, den Juden Schutz und Sicherheit zu gewähren. Und als sie merkten, auf was die jüdische Einwanderung hinausläuft, nämlich auf einen jüdischen Staat, der am Ende sie so behandeln wird, wie die Juden in den Staaten behandelt worden sind, aus denen sie flohen, da war es zu spät. Da ist Israel mit aller gewollten und ungewollten Hilfe eine Realität geworden, die man nicht mehr aus der Landkarte wegradieren konnte. Und das ist gut so. Nur, was ist aus den Palästinensern geworden, und was soll aus den übrigen, fast zwei Millionen, die dort leben, werden? In seinem Beitrag schreibt Herr Galinski nicht ein einziges Wort zu dieser wichtigsten aller Fragen.
Während Schamir und Scharon immerhin wissen, daß es Palästinenser gibt und man mit ihnen so oder so zu einem friedlichen Abkommen gelangen muß, fällt Galinski zurück in die Zeit vor dem ersten Zionistenkongreß, als Herzl und seine Weggenossen noch davon ausgingen, daß „Palästina ein Land ohne Volk sei — für ein Volk ohne Land“. Schon die nächste Generation von Zionisten hat eingesehen, daß dies eine naive Vorstellung und ein fataler Fehler war. Jabotinski, der Prophet der Revisionisten, hat schon in den dreißiger Jahren erkannt, daß die Palästinenser freiwillig ihr Land nicht verlassen werden, daß sie es mindestens genauso emotional und fest lieben wie die Juden.
Galinski entwirft in seinem Kommentar wieder das Bild eines schwachen, von allen Nationen der Welt verfolgten Israel. Das ist aber nicht wahr. Israel wird nicht von allen Nationen verfolgt und muß sich am Madrider Verhandlungstisch nicht „allein gegen eine Übermacht seiner Nachbarn durchsetzen“. Es soll sich auch nicht „durchsetzen“, sondern verhandeln und zu einem fairen und für alle Parteien, auch für die Palästinenser, akzeptablen Kompromiß durchringen. Es muß endlich begreifen, daß es keinen Frieden im Nahen Osten geben kann auf Kosten der Palästinenser, wie es selbstverständlich auch keinen Frieden geben kann auf Kosten der Israelis.
Deshalb ist es auch endlich an der Zeit, mit dem Märchen vom schwachen Juden beziehungsweise schwachen Israeli Schluß zu machen. Israel ist nicht schwach. Israel ist die stärkste Militärmächt in seiner Region und besitzt darüber hinaus die Atombombe. Die nukleare Abschreckung sorgt dafür, daß die aufgerüsteten Nachbarn ihre Grenzen sehr genau kennen und in Zukunft Israels Grenzen sehr genau respektieren werden.
Geprüft werden muß auch die Behauptung, daß die Konferenz, unabhängig vom Ergebnis, in die Geschichtsbücher eingehen wird. Die Völker im Nahen Osten, auch das israelische Volk, erwarten von ihren politischen Führern, daß sie endlich eine Lösung finden für ihre Probleme, daß sie endlich einen Schlußstrich ziehen unter der Bilanz der Kriege und Überfälle, daß sie endlich den gordischen Knoten, der das Leben aller in dieser Region zusammen verknotet und gefährdet, durchschneiden. Bleibt also nur noch die Frage, ob die Auslassung der Palästinenser zu bewerten ist als ein Zeichen der Ignoranz oder der Arroganz. Wie auch immer, beides sind Zeichen politischer Kurzsichtigkeit und Dummheit.
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