Rote Fahnen wehen in den Slums von Lima

Der blutige Krieg zwischen Perus Militär und der Guerilla „Sendero Luminoso“ verlagert sich zunehmend in die Elendsviertel der Hauptstadt/ Morde und Einschüchterungen verbreiten unter den Basisorganisationen der Slumbewohner die Angst, zwischen den Fronten aufgerieben zu werden  ■ Aus Lima William Long

Die Siedlung besteht aus Lehmziegeln und Strohdächern. Es gibt Brunnen und Gemeinschaftszentren und auch eine kleine Mauer mit Wachposten, von einer Miliz kontrolliert. Eine „Volksversammlung“ verabreicht Volksjustiz: „Je nachdem, was die Versammlung entscheidet, verurteilen wir die Leute zu bis zu 35 Peitschenhieben“, erklärt eine Gemeindeführerin.

Ort des Geschehens: Raucana, ein Elendsviertel am Rand des gigantischen Slumrings um Perus Hauptstadt Lima. Raucana ist fest in der Hand der Guerilla Sendero Luminoso, die getreu ihrer Strategie, sich jetzt auf den „Stellungskrieg“ gegen den peruanischen Staat zu konzentrieren, ihren Kampf in Lima verstärkt.

Die Siedlung ist eine von mehreren, die direkt von Senderistas mitgegründet wurde. Ihre 1.200 Bewohner kamen erst vor kurzem aus dem Hochland nach Lima — auf der Flucht vor dem mörderischen Krieg zwischen Guerilla und Armee, der im letzten Jahr über 3.000 Todesopfer forderte. Kader der radikal-maoistischen Guerillaarmee mischten sich unter die Neuankömmlinge in der Hauptstadt und brachten ihnen bei, Brachland zu besetzen und dort Häuser zu bauen.

„Die Guerilla führt Zwangsrekrutierungen durch“, sagt Vicente Otta, Leiter einer Nichtregierungsorganisation in Limas Slums. Ihre Kader organisieren Zuwanderer, wie in Raucana, oder sie machen sich in existierende Slums in Robin-Hood-Manier beliebt: Sie zwingen Händler auf Marktplätzen dazu, bestimmte Höchstpreise nicht zu überschreiten, oder sie überfallen Lebensmitteltransporte und verteilen den Inhalt unter den Armen.

Sendero marschiert mit roten Fahnen durch Elendsviertel und richtet „Pionierschulen“ ein — für viele Kinder die einzige Erziehung. In manchen Slumsiedlungen setzt die Guerilla eine nächtliche Ausgangssperre durch. Eine rigorose Bestrafung von Kleinkriminellen soll der Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit bieten. Die Senderistas „sind die einzigen, die rechtsfreie Räume besetzen, und deshalb werden sie respektiert“, sagt amnesty-international-Mitarbeiterin Mary Watson.

Doch wer sich ihren Anweisungen widersetzt, wird umgebracht. Senderistas töteten kürzlich Juana Lopez Leon, Leiterin eines Projekts, das Gratismilch an Kleinkinder austeilte. Im südlichen Stadtbezirk Villa El Salvador, an dessen Hauswänden sich die Sendero-Präsenz in großen roten Graffiti wie „Volkskrieg für das Volksrecht“ äußert, demonstrierten Tausende von Frauen gegen Sendero, nachdem die Guerilla das Lebensmittellager einer Volksküche in die Luft sprengte.

Maria Elena Moyano, Bürgermeisterin der Vereinigten Linken in Villa El Salvador, sagt zu Sendero: „Wer sich ihrer Strategie widersetzt, wird liquidiert.“ Doch werde sich kein linker Bürgermeister je Sendero beugen. „Die Linke ist die einzige Kraft in diesem Land, die Sendero Luminoso schlagen kann.“

Gustavo Goritti, Journalist und Sendero-Experte in Lima, ist jedoch der Meinung, daß die legale Linke in Peru durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa demoralisiert ist. Die Vereinigte Linke, die viele Bürgermeister stellt, sei in einigen ihrer bisherigen Hochburgen einfach nicht mehr präsent. „In diesem Vakuum kommt Sendero rapide voran“, sagt er. Der Machtkampf in den Slums werde sich vor allem an den über 3.000 Suppenküchen und Selbsthilfeorganisationen entscheiden, die für die drei Millionen Slumbewohner Limas die wichtigste Infrastruktur sind: „Sendero zielt darauf ab, diese Organisationsform zu vereinnahmen.“ Wenn die Einschüchterung durch Sendero erfolgreich ist, wird die Gewaltbereitschaft der Guerilla wachsen, meint Goritti. Doch wenn sich die Frauen, die diese Gruppen leiten, der Guerilla widersetzen, wird Sendero vorsichtiger sein und „mit größerer Geduld vorgehen“.

Eine Volontärmitarbeiterin in einer Gruppe, die ihren Namen nicht genannt haben wollte, meint: „Die Frauen wissen noch nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen.“ Protestmärsche wie in Villa El Salvador seien zwar nützlich, aber: „Was machen wir danach? Wir brauchen mehr als Mut. Wir müssen uns verteidigen können.“ Es müßten bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen gebildet werden — sonst würde Sendero stärker werden, und dann würde die Armee in die Slums einfallen: „Allgemeine Repression macht mir am meisten angst.“

Was sagt die Armee dazu? Im Verteidigungsministerium äußert sich General Alberto Arcinaega, ein hochrangiger Anti-Guerilla-Kämpfer. Er ist der Meinung, die verstärkten Aktivitäten Senderos in Lima seien auf ihre Niederlagen im Hochland zurückzuführen, wo die Armee seit einiger Zeit bewaffnete Bauernmilizen gegen die Guerilla einsetzt. „Sie gehen hier auf höchsten Einsatz, weil die von der Armee und die Bauernpatruoillen draußen schwer angeschlagen sind“, sagt er. In den Slums werde es darum gehen, die Menschen psychologisch zu gewinnen. Die Regierung müsse deshalb Lebensmittel, Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen: „Es gibt keine Lösung, wenn es keine wirtschaftliche Hoffnung gibt.“