Aufholjagd gegen die Kosten der Einheit

In der Tarifrunde 92 wollen die Gewerkschaften einen realen Lohnzuwachs durchsetzen/ Nachholbedarf im zweiten Jahr der Einheit  ■ Von Martin Kempe

Die VW-Beschäftigten machen den Anfang. Ab 1. November werden nach einer am Mittwoch zwischen IG Metall und VW-Management erzielten Einigung Arbeiter und Angestellte nach einem gemeinsamen Entgelttarifvertrag entlohnt. Zwar sind mit diesem Vertragswerk auch Lohnerhöhungen im Gesamtvolumen von 6,7 Prozent verbunden. Die eigentliche Zielsetzung des Vertrages sind aber Veränderungen in der Lohnstruktur, durch die gleichwertige Arbeiten auch gleich bezahlt werden, unabhängig davon, ob sie von Angestellten oder Arbeitern verrichtet werden. „Das Ergebnis ist zukunftsweisend“, meinte der hannoversche IGM-Bezirksleiter Jürgen Peters. Denn die ständischen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten sind im Arbeitsleben längst überholt, die lohnpolitische und arbeitsrechtliche Gleichstellung ist überfällig und soll im nächsten Jahr flächendeckend auf den Verhandlungstisch kommen.

Der Entgelttarifvertrag bei VW, der noch in dieser Woche unterzeichnet werden soll, setzt für die Tarifauseinandersetzungen 92 einen qualitativen Orientierungspunkt. Darüber hinaus wird es aber in den meisten Branchen, wie schon im Frühjahr dieses Jahres, um einen realen Zuwachs bei den Löhnen gehen. Dabei wird nicht die IG Metall, sondern die ÖTV den Vorreiter spielen. Sie hat verlauten lassen, daß sie diesmal eine zweistellige Lohn- und Gehaltsforderung präsentieren will. 10,5 Prozent sind im Gespräch. Von der IG Metall liegt für den Stahlbereich eine Forderung in gleicher Höhe vor. Die anderen Gewerkschaften werden sich daran orientieren.

Im letzten Jahr hatte die ÖTV 10 Prozent gefordert und sechs Prozent zuzüglich einiger Strukturverbesserungen für die besonders belasteten Sozialberufe durchgesetzt. Auch die Abschlüsse in der gewerblichen Wirtschaft Westdeutschlands haben sich mit einem Volumen zwischen sechs und sieben Prozent an dieser Vorgabe orientiert. Unter dem Strich aber haben Inflation und Steuererhöhungen diese Zuwächse wieder aufgefressen.

Die soziale Spaltung in Deutschland wirkt schwächend auf die Gewerkschaften. Das wird auf Jahre hinaus so bleiben. Aber dennoch dürften sich ihre Aktionsmöglichkeiten gegenüber dem letzten Jahr verbessert haben: Der kräftezehrende Organisationsaufbau in den neuen Ländern ist inzwischen weitgehend abgeschlossen. Und in fast allen Branchen wurden im letzten Jahr Tarifverträge über eine stufenweise Angleichung der Löhne und Gehälter in Ostdeutschland an das Westniveau abgeschlossen. Danach erübrigen sich gesonderte Lohntarifverhandlungen für Ostdeutschland.

Die Gewerkschaften können also im Frühjahr 92 freier agieren als im Jahr eins der Vereinigung. Und sie können sich wieder stärker auf ihr gewohntes tarifpolitisches Terrain im Westen konzentrieren. Dies könnte dazu führen, daß die kommende Lohntarifrunde konfliktträchtiger wird als die letzte. Auch Stellungnahmen aus dem Arbeitgeberlager deuten darauf hin. Und die Wirtschaftsinstitute empfahlen kürzlich eine maximale Lohnerhöhung von nur vier Prozent.

Eine derartige Marge ist für die Gewerkschaften völlig inakzeptabel. Die Mitglieder fordern massiv eine reale Lohnerhöhung, zumindest aber die Kompensation der als „Solidaritätsabgabe“ auf jedem Lohnstreifen ausgewiesenen Steuererhöhung. Der Kompromißbereitschaft der Gewerkschaften sind also engere Grenzen gesetzt als im letzten Jahr. Für die Arbeitgeber gilt dasselbe: Der langjährige, durch die deutsche Einheit noch einmal angeheizte Boom neigt sich dem Ende zu. Und insbesondere in den Haushalten der öffentlichen Hand sind die Spielräume aufgrund der anhaltenden Belastungen durch die deutsche Einheit zusammengeschrumpft. Alles deutet also darauf hin, daß die Lohn- und Gehaltsrunde 92 für beide Tarifparteien kein Spaziergang wird.

Schwierig werden auch die Verhandlungen über einen neuen Lohn- und Gehaltsrahmen, die im Frühjahr zwischen Gesamtmetall und IG Metall in Baden-Württemberg beginnen sollen. Hier geht es nicht um Prozente, sondern um die Systematik der Lohn- und Gehaltseinstufung, die nach den Vorstellungen der IG Metall grundsätzlich reformiert werden soll. In welche Richtung es dabei gehen soll, hat die IG-Metall-Zentrale in Frankfurt in einer umfangreichen Broschüre „Tarifreform 2000“ zusammengefaßt. Danach sollen Arbeiter und Angestellte in Zukunft nicht mehr nach vordemokratischen Statusmerkmalen, sondern nach einheitlichen Qualifikationskriterien bezahlt werden. Und vor allem soll in Zukunft nicht mehr die vom Arbeitgeber abgeforderte Leistung für die Einstufung entscheidend sein, sondern die von den Beschäftigten angebotene Qualifikation. Kombiniert mit umfangreichen Freistellungsrechten auf berufliche Weiterbildung, würde dies für die Beschäftigten einen Anreiz bilden, ihre berufliche Qualifikation zu steigern. Und für die Arbeitgeber entstünde ein Druck, die Qualifikation, die sie bezahlen müssen, auch tatsächlich abzufordern, also qualifiziertere Arbeitsplätze zu schaffen.

Ziel der IG Metall ist eine allmähliche Umgestaltung der Arbeitswelt hin zu höherwertigen, abwechslungsreichen Tätigkeiten und zu größeren Mitbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigten und der Betriebsräte auf den unmittelbaren Arbeitsprozeß und auf die Technikgestaltung. Dabei sollen nach den Vorstellungen der Gewerkschaft auch zunehmend ökologische Kriterien in den betrieblichen Alltag einfließen: Betriebsräte und Vertrauensleute als Träger ökologischer Interessen in der Arbeitswelt.

Handfestere Ziele hat die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden (BSE). Nach der bereits festgeschriebenen Angleichung der Löhne in Ost und West will sie in einem gemeinsamen Rahmentarifvertrag auch Urlaub und Arbeitszeit angleichen. Alle Bauarbeiter in Ost und West sollen 30 Tage frei verfügbaren Jahresurlaub erhalten (im Baugewerbe wird der Urlaub häufig auf den Winter verlegt), und die Arbeitszeit soll in ganz Deutschland kürzer werden. Außerdem sollen die im Baugewerbe häufig besonders langen Anfahrtswege stärker bei der Bezahlung berücksichtigt werden. Der Rahmentarifvertrag läuft Ende des Jahres aus. So kann der kürzlich neu gewählte BSE-Chef Bruno Köbele den Vorreiter bei der Angleichung der Arbeitsbedingungen zwischen Ost und West spielen und dabei größere Durchsetzungsfähigkeit beweisen als sein Vorgänger Conrad Carl. Dessen Verhandlungsergebnisse mit den Arbeitgebern wurden in den letzten Jahren mehrmals von der Tarifkommission der BSE als ungenügend zurückgewiesen.