piwik no script img

Blick zurück in die Vitrinen

■ Bremen 1848-71 hinter Glas im Staatsarchiv / Rechtsrum oder linksrum?

Einen Blick zurück in dreiundzwanzig stürmische Jahre ihrer Stadt können die BremerInnen seit gestern im Staatsarchiv am Kennedy-Platz riskieren. Von Stellwänden werfen tote Bremer Politiker der Jahre 1848 bis 1871 ihre starren Blicke durch Beethoven-Brillen, in sechs Vitrinen liegen handgeschriebene Briefe aus der Revolutionszeit, für deren Entzifferung gewisse graphologische Fähigkeiten von Nutzen sind.

Die Bremer Vitrinen sind die Zugabe zu einer Ausstellung des Bundesrates in Bonn, die im Staatsarchiv aufgebaut ist. „Bilder aus Deutschland 1848-1871 — Föderalismus und Nationalstaat“ lautet der Titel.

1848: Das Jahr, in dem das deutsche Bürgertum den Versuch einer Revolution unternahm.

1871: Das Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, als das Bismarcksche Preußen über Demokratie, Liberalität und Föderalismus endgültig obsiegte.

Dazwischen: Die verlorenen Hoffnungen der Revolutionäre, die mit der Frankfurter Nationalversammlung einen demokratischen Bundesstaat aus der Taufe heben wollten.

In den Bremer Vitrinen — fünf davon sind im Foyer leicht zu entdecken, die sechste wurde in einem Flur trickreich verborgen - sind beide Tendenzen repräsentiert: die revolutionäre und die konservative. Stellvertretend für den aufmüpfigen Teil des Bremer Bürgertums blickt zum Beispiel Rudolph Dulon die BetrachterInnen von seinem zeitgenössischen Stich an. Er war von 1848 bis 1852 Pastor an der Liebfrauenkirche in der Stadtmitte und machte sich beim Senat ständig durch radikale Reden unbeliebt. Schließlich wurde er aus der Stadt gejagt.

Für die andere Richtung steht etwa Johann Smidt, der in derselben Zeit das Bürgermeisteramt bekleidete und sich nicht zu schade dafür war, die fortschrittliche Bremer Revolutions-Verfassung mit den Mitteln des deutschen Einheitsstaates zu hintertreiben, indem er sich hinterrücks mit dem Deutschen Bund einließ.

Im überregionalen Teil der Ausstellung gibt es außerdem Graphiken aus dem 19. Jahrhundert, auf denen kuriose, soziale und politische Ereignisse zu sehen sind, die sich allesamt im Spannungsfeld zwischen Nationalstaat und deutschen Einzelstaaten abspielten. Für die BesucherInnen ist es nicht leicht, sich in der Ausstellung zurecht zu finden. Wegweiser gibt es nicht — wer nicht aufpaßt, startet im Jahr 1865 und muß sich mühsam bis zum Jahr 1848 zurückkämpfen.

Schön, damals gab es also Länder, aus denen allmählich das Deutsche Reich wurde. Was die Ausstellung schon nicht mehr thematisiert: Heute existiert ein Einheitsstaat, in dem die Bundesländer gewisse Rechte haben und manchmal gerne mehr hätten. Doch was folgt aus alldem? Wenn man die Ausstellung ansieht: Nichts.

Dabei hätte es der Anknüpfungspunkte an die Gegenwart genug gegeben: Die Ausstellung wurde 1987 konzipiert, wenig später dann von der Wiedervereinigung Deutschlands überholt. Mit der Wahl Berlins zur Hauptstadt wurde dem Föderalismus der deutschen Länder ein Tritt versetzt, behaupten zahlreiche KritikerInnen. Und die Diskussion um die Zusammenlegung der kleineren norddeutschen Länder zu einem Nordstaat dauert auch schon seit Jahren an. Hannes Koch

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen