Kultur ist gefräßig

■ Juan Goytisolo über die Suche nach den „eigentlichen Werten“, Nationalismus und Orthodoxie

In dem Augenblick, in dem die Ideologien zusammenbrechen und am Horizont Nationalismus und Religion als einzige Fluchtpunkte aufscheinen, sei daran erinnert, daß der Rückgriff auf diese identitätsstiftenden Begriffe trügerisch bleiben muß, wenn wir uns damit zufriedengeben, zurückzublicken und eine „eigentliche“ Identität zu preisen, die sich in Wirklichkeit nur an unserer Privatsphäre orientiert.

Die Geschichte lehrt, daß es kein innerlich reines nationales oder kulturelles Wesen gibt. Das Mosaik der Länder, die heute den europäischen Raum bilden, ist im Laufe der Jahrhunderte durch den befruchtenden Schock entgegengesetzter Einflüsse, aus Kreuzung, Vermischung, Kontrast und Wettstreit entstanden. Diese Dimension von Vielfalt ist zugleich der Spiegel, durch den wir uns sehen — und ein unersetzliches Stimulans. Je lebendiger eine Kultur ist, desto offener ist sie auch, und desto gefräßiger wird sie sich andere Kulturen einverleiben. Ich möchte sogar sagen, daß eine Kultur immer nur die Gesamtsumme der Mischungen und Einflüsse bildet, durch die sie gegangen ist.

Ich formuliere hier keine internationalistischen Theorien und Hypothesen. Die Erfahrungen meines Landes und benachbarter kultureller Regionen zeigen deutlich, daß ihre gesunden und expansiven Perioden stets mit einer Vervielfachung der Öffnungen und Kontakte einhergingen; die Epochen der Dekadenz und der Zusammenbrüche sind dagegen durch eine sterile Suche nach „eigentlichen Werten“ gekennzeichnet, die angeblich den Kern ihrer von allen Mischungen freien, ursprünglichen Seele bilden: nationale und religiöse Orthodoxie, Selbstgenügsamkeit, Ablehnung des anderen, Festhalten an versteinerten Traditionen, panische Angst, vom Nachbarn unterwandert zu werden.

Eine Reihe von glücklichen Umständen machte das mittelalterliche Spanien für drei Jahrhunderte zum Gravitationszentrum der damaligen Weltkultur. Die Ankunft der Mönche von Cluny und Santiago — ein Wallfahrtsort, der dem Mekka der Moslems gleichkam — setzten die nördlichen Königreiche der Halbinsel mit der entstehenden europäischen Kultur in Verbindung; zugleich machte die fruchtbare Koexistenz der christlichen, islamischen und jüdischen Spanier die ersteren mit den großen orientalischen Kulturen und der griechischen Philosophie vertraut, die im übrigen europavergessen war.

Die Übersetzerschule von Toledo führte Aristoteles und Ptolemäus, die arabische Medizin und Algebra, die Literatur Hindustans und Persiens in Europa ein. Durch die Zwischenstation Toledo etwa kamen die metaphysischen Lehren Avicennas an die Sorbonne, wo sie von Thomas von Aquin mit den Argumenten des Avicenna- Rivalen Averroes bekämpft wurden. Asin Palacios hat nachgewiesen, daß Dante seine Commedia ohne die eschatologischen Legenden des moslemischen Buchs der Leiter des Propheten, das auf Anordnung Alfons' X. (der Weise) ins Lateinische und Spanische übersetzt worden war, nicht hätte schreiben können.

Als die mittelalterliche Koexistenz brüchig wurde und die katholischen Könige und ihre Nachfolger die Gesellschaft erbarmungslos gleichschalteten, indem sie die Juden und Mauren vertrieben, die Wissenschaftler, Mystiker, Reformatoren und Humanisten verfolgten und um ihre Reiche einen „Cordon sanitaire“ legten, den Marcel Bataillon mit Hitlers und Stalins Praktiken verglich, da wurde unsere Kultur zur Brache: Spanien war aus dem Zug der Geschichte ausgestiegen und hat den Anschluß an die Moderne erst vor ganz kurzer Zeit wiedergefunden.

Diese unglückliche Geschichte sollte uns eine bittere Lektion und Warnung sein. Die europäische Gemeinschaft darf in Zukunft keine konservative Haltung einnehmen, die sich auf die bloße Bewahrung eines ausschließlich europäischen Raums zurückzieht — so reich und glanzvoll die europäische Kultur auch sein mag. Eine Zukunft ohne die Mobilität und die Mischungen der Moderne würde aus uns ängstliche Verwalter der Vergangenheit machen und uns alle Neugier für das andere rauben, durch die sich unsere größten Künstler und Dichter immer auszeichneten. Übersetzung: thc

Diesen Text — die Eröffnungsrede — übernehmen wir dankend vom „Carrefour des littératures européennes de Strasbourg“, das heute dortselbst eröffnet wird und bis Montag dauert. Thema des Schriftstellertreffens ist „Der Süden“. Neben Juan Goytisolo kommen unter anderen Claudio Magris, Yachar Kemal, Jose Saramogo, Pierre Mertens, Cees Nooteboom, Paul Virilio, Mario Vargas Llosa und Joseph Brodsky. Es gibt Dichterlesungen und Diskussionen zu Fragen wie „Wo sind denn nun die europäischen Grenzen?“ und „De la Mitteleuropa à la Méditerranée“. Die taz berichtet am nächsten Freitag auf den Kulturseiten.