„Das Leben ist unerträglich“

■ Ein Beispiel aus der Arbeit der psychosozialen Beratungsstelle „Refugio“

Ein Ehepaar, um die 40 Jahre alt mit einem 6-monatigen Säugling kommt zur Beratung. Sie stammen aus dem Iran und sind seit ca. acht Monaten als Asylsuchende in der Bundesrepublik. Der Mann hält das Baby im Arm und macht einen kontaktsuchenden Eindruck, die Frau läuft ihm hinterher und macht einen sehr deprimierten und lustlosen Eindruck. Von ihrem Äußeren her macht sie einen guten und gepflegten Eindruck.

Ich schaue die Frau aufmerksam an und warte, bis sie anfängt, etwas zu erzählen. Es vergehen einige Minuten und sie schweigt. Ich habe das Gefühl, als ob die Zeit stehengeblieben ist. Die Atmosphäre ist bedrückend, und es herrscht Schweigen im Beratungsraum. Während ich durch meinen Blick einen erneuten Versuch starte, zu dem Mann einen Kontakt herzustellen, beobachte ich, daß die Frau ihren Kopf zwischen den Händen hält und die Ellbogen auf die Knie stützt. Dabei starrt sie zu Boden und weint in sich hinein.

Ich wende mich dem Mann zu und frage ihn, ob er weiß, warum seine Frau so traurig ist. Er versucht zu erzählen, während das Baby auf seinem Schoß unruhig herumzappelt und stört. Der Mann erzählt: „Wir sind wegen meiner Frau hier; ihr geht es nicht gut. Sie ist sehr traurig. Eigentlich ist sie das schon immer gewesen, seitdem wir in der Bundesrepublik sind. Sie hat keine Lust auf mich und die Kinder, sie ist sehr deprimiert und passiv, sie läßt das Baby heulen und macht fast gar nichts im Haus außer Herumhocken und Weinen. Sie ist wie unbeteiligt am Leben. Im Moment ist das Leben bei uns unerträglich. Ich bin selbst zu erschöpft und weiß nicht, was ich machen soll.“

Ich versuche noch einmal, zu der Frau einen Kontakt herzustellen und frage sie, ob sie ihrem Mann zustimmt. Sie versucht, ganz langsam und leise, mit einer tiefen Stimme, zu erzählen: „Ich bin Biologin, im Iran war ich Hausfrau, und mein Mann war als Bauingenieur aktiv und erfolgreich. Ich war im achten Monat schwanger und mir wurde von meinen Eltern und Schwestern, die alle in der Nähe unseres Hauses wohnten, viel geholfen. Eines Tages kam mein Mann nach Hause und sagte zu mir: 'Wir müssen weg, und zwar ganz schnell. Unser Leben ist in Gefahr.‘ Von heute auf morgen mußte ich mich auf eine lange Reise ins Ungewisse vorbereiten. Erst nachdem wir im Ausland waren, hat mir mein Mann erzählt, daß er seit zehn Jahren politisch aktiv war und daß es nun nicht mehr weiter gegangen war.“ Sie fängt wieder an zu weinen und erzählt dann: „Können Sie sich vorstellen...?“

Ich bringe mein Mitgefühl mit ihr zum Ausdruck und bitte sie erneut weiterzuerzählen. Sie erzählt wiederholt von ihrem verlorenen Glück, d.h. von dem großen Haus mit Garten und Swimmingpool, von ihren Eltern, den glücklichen Kindern und ihrem früheren sozialen Umfeld. „Und nun hier in der Fremde müssen wir in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit fünf Personen leben, zu wenig Geld, kein Kontakt, nicht einmal der geringste Kontakt zu meiner Familie... Ich bin am Ende, ich kann in dieser Situation so nicht mehr weiterleben. Ich habe zu nichts mehr Lust.“ Jalal Razavi