„Das Feuer in Asylantenheimen ist das in Synagogen“

■ Interview mit Karl Fruchtmann über Deutschtümelei und das Recht, anders zu sein / „Es besteht Grund zur Angst“

Ein deutscher Jude, Karl Fruchtmann, ist Filmautor und Regisseur. Er wurde am 10.12.1915 in Meuselwitz/Thüringen geboren. Sein Vater Jakob starb kurz nach dem Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte im April 1933. Karl Fruchtmann lebte fast vier Jahre in den KZ's Sachsenburg bei Chemnitz und Dachau. 1937 wurden Karl Fruchtmann und sein Bruder Max freigekauft. Beide gingen nach Palästina. 1958, im Alter von 42 Jahren, kehrte er nach Deutschland zurück. Sein erster Job in der Bundesrepublik war Kabelträger beim WDR. Seitdem hat Fruchtmann über 30 Filme gedreht und ist mehrfach ausgezeichnet worden. Heute lebt er mit seiner Frau Janet in Bremen.

Herr Fruchtmann, welche Gefühle haben Sie in der letzten Zeit gehabt angesichts dieser Hysterie, dieser Deutschtümelei gegen Ausländer?

Dem, was wehrlosen Ausländern angetan worden ist? Haß, Ekel, Abscheu und Ohnmacht. Haß und Ekel brauche ich nicht zu erklären. Ohnmacht, weil es scheint, daß man so wenig dagegen tun kann.

Nach Tucholsky ist Deutschland eine anatomische Merkwürdigkeit: Es schreibt mit der linken Hand und tut mit der rechten..

Es nützt uns nicht viel, auf diesen Aphorismus zurückzugreifen. Die Bezeichnungen links und rechts haben ihre Bedeutung gewandelt. Ich weiß nicht, ob nur die Rechte in Deutschland „handelt“. Ich fürchte, es ist schlimmer und gefährlicher: Es sind alle, die verbunden sind mit der Macht und mit dem Gesellschaftssystem. Sie „handeln“ — soweit dieses Handeln bedeutet, daß sie in einem Prozeß des Funktionierens mitmachen.

Ob die Linke schreibt — ich

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von dem

Mann

Karl Fruchtmann, Deutscher, Jude, Filmemacher

weiß es nicht. Ich weiß nicht, wieviele von den Schreibern Linke sind. Ich weiß nur, daß die Linke, die schreibt — schweigt. Da haben Sie einen Grund für meine Gefühle: Das Schweigen der linken Intellektuellen empfinde ich als bedrückend.

Hitler hat geschrieben, daß die breite Masse, das „Volk“ sozusagen, dumm ist, nicht intelligent genug, um Einzelheiten zu begreifen. Eine richtige Propaganda wäre es deswegen, mit Schlagworten zu arbeiten. Glauben Sie, das Deutsche Volk ist wieder dumm und wird der Thematisierung des Hasses gegen Ausländer folgen?

Ich bin nicht interessiert an dem, was Hitler gesagt hat. Ich möchte mich nicht an ein Zitat von Hitler anschließen. Ich verstehe die Absicht Ihrer Frage, aber ich kann nichts anfangen mit Formulierungen, wie „ist das deutsche Volk dumm.“ Dumm ist ein fragwürdiger Begriff, den man am besten, wenn überhaupt, auf Einzelne anwendet, nicht auf ein Volk.

Wenn Sie fragen wollen: Ist es möglich, daß das deutsche Volk, trotz der schrecklichen Erfahrungen der Deutschen selbst und den noch schrecklicheren Erfahrungen, die andere mit ihnen machen mußten, Ausländer hassen kann wie damals, — die Antwort ist klar: Ja. Der Anlaß unseres Ge

spräches ist ja, das Ähnliches geschieht. Ich hasse Vergleiche. Aber wer nicht sehen will, daß das, was hier geschehen ist und noch geschieht, verwandt ist mit dem, was vor 50 oder 60 Jahren geschehen ist, will blind sein. Es ist richtig, was ein Politiker gesagt hat, daß Hoyerswerda das erste Pogrom in der Bundesrepublik seit 1945 sei.

Die Voraussetzungen sind dieselben, die Mechanismen sind dieselben — die Brände sind dieselben, dasselbe Feuer in Asylantenheimen wie in Synagogen. Ich bin nicht sicher, ob nicht auch die Synagogen wieder brennen werden, wenn die Kräfte, die hinter diesen Attentaten stehen, es politisch für profitabel halten.

Ich lebe in Deutschland noch nicht so lange. Ich traue mich nicht, Deutschland zu verurteilen. Aber meine Beziehungen zu Deutschen in den letzten fünf, acht Jahren haben mir gezeigt, daß irgendwie die erste und zweite Generation der Deutschen nach dem Krieg ein Problem mit ihrer Beziehung zu Deutschland hatte. Ich habe oft gehört: „Ich schäme mich, deutsch zu sein.“ Selbsthaß, das ist ein alter deutscher Spruch, ist der erster Schritt zur Verbesserung. Haben Sie vor dieser Deutschtümelei eine Verbesserung gesehen?

Ich zögere auf solche Fragen zu antworten. Vergleiche der Art möchte ich nicht anstellen. Sicher hat es Verbesserungen gegeben. Wer die Verbesserungen leugnet, ist „dumm“. Es hat große Veränderungen gegeben. Gehen Sie zur Bahn, kaufen Sie ein Billet und Sie werden sehen, daß Beamte höflich sein können. Das ist eine „Revolution“.

Sie können viele Anzeichen einer funktionierenden Demokratie erleben. Sie können sehen, daß es eine Jugend gibt, die zu wesentlichen Teilen gut, demokratisch, menschlich ist. Aber wenn Sie es damit bewenden lassen, begehen Sie einen schrecklichen Irrtum. Denn es ist kein Zweifel, daß wir in einer Zeit leben, in der deutlich wird, daß alte deutsche Traditionen, eine deutsche Kontinuität wieder aufgenommen wird — die nie zerbrochen, nie verschwunden war, sondern einen Dornröschenschlaf geschlafen hat. Es scheint, daß diese Kontinuität morgen und übermorgen eine größere Rolle spielen kann.

Die Änderung der Menschen Deutschlands war nicht so radikal wie sie schien.

Ohne Zweifel ist viel von dem, was an Schrecken und Horror geschehen, von Deutschen angerichtet und erlitten worden ist, weggeschoben — ich zögere zu sagen verdrängt, weil dies ein individualpsychologischer Mechanismus ist. Aber etwas ähnliches ist hier geschehen. Wie könnte es anders sein?

Ein Volk lebt zwölf Jahre in einem System des Mordens. Die Mehrheit weiß davon, nimmt daran teil — die Zahl derer, die sich dagegen wehren, ist winzig. Die Teilnahme an einem System des Mordens soll auf einmal vorbei und nie gewesen sein? Mit Kriegsende sollen die Menschen völlig neu geworden und sein? Die Gnade einer unbefleckten Neugeburt? Nein.

Ebenso wäre es falsch, zu erwarten, daß diese Nichtveränderung, die Wegschiebung, die Verdrängung, sich nicht in der einen oder anderen Form bei den Söhnen und Enkeln zeigen würde.

Ich fürchte, wir wohnen einem Prozeß bei, in dem Elemente dessen, was verdrängt wurde, wieder zum Vorschein kommen. Was sich ereignet hat, wird nicht das letzte sein, was auf uns zukommt. Es besteht Grund zur Sorge und Grund zur Angst.

Wobei ich mit Angst nicht meine, was eine Person empfindet, die Angst hat, geschlagen zu werden. Sondern: Ich bin Jude. Wenn ich nicht Angst hätte, wäre ich „dumm“. Ich bin Deutscher, wenn ich nicht Angst hätte, wäre ich „dumm“. Sowohl als Deutscher als auch als Jude sehe ich Grund, Angst zu haben.

Was kann, was muß gemacht werden, um diesen Prozeß, der Angst macht, zu vermeiden?

Der Begriff Angst ist ein oft mißbrauchter. Ich halte Angst für eine Emotion, die Grundlage vieler schöpferischer Äußerungen und lebensnotwendig ist. Das hat nichts zu tun mit Panik, die lebensbedrohend ist.

Ich wünschte mir, Menschen in Deutschland hätten Angst. Damit meine ich Deutsche. Und nicht Asylbewerber. Ich wünschte, mehr Deutsche hätten Angst vor dem, was geschieht und vor dem, was geschehen kann.

Was kann getan werden? Ich habe kein Rezept. Ich weiß nur: Daß etwas hätte geschehen müssen, was nicht geschehen ist. Als erstes hätte ich einen Aufschrei erwartet. Ich meine nicht, gepflegte, brave Worte, die vierzehn Tage später von Politikern gesprochen wurden.

Was getan werden muß, ist das, was aus dieser funktionierenden Demokratie in Deutschland eine macht, die mehr menschlichen, mehr realen Gehalt hat. Hier wäre eine Gelegenheit, zu zeigen, daß Politik nicht nur das ist, was von Politikern verwaltet wird.

Es wär nötig, diese beste, fortschrittlichste Verfassung der Welt, als die sie oft beschrieben wird, mit Blut, nein, mit Leben zu füllen.

Ich möchte Reaktionen sehen, Aktionen. Ich würde mich freuen, wenn hier in Bremen der Druck auf die Politiker so wird, daß nicht nur über „Probleme“ geredet, sondern daß etwas getan wird, das dem Artikel I des Grundgesetzes — „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - wieder zu Ehre und Ansehen verhilft. Das, was geschehen ist, spuckt jeder Menschenwürde ins Gesicht.

Jemand hat mal gesagt, eine multikulturelle Gesellschaft ist eine multikriminelle. Was ist „multikulturelle Gesellschaft“ für Sie?

Nicht viel. Eine der Phrasen, die mir wie von einem Public-Relations-Büro geliefert scheinen. Eines der Schlagworte, die Menschen befähigen, flott mit einer Sache fertig zu werden, die sie kaum berührt und sich dabei fortschrittlich vorzukommen.

Mit Gehalt gefüllt kann es nur bedeuten, daß Menschen verschiedener Herkunft in Würde zusammen leben, sich gegenseitig achten, daß ihre Verschiedenheit ein Grund für mehr kulturellen Reichtum und menschliche Nähe ist. Nichts sonst.

Das erste Grundrecht der Menschen ist ihr Recht, anders zu sein. Sie sind nicht gleich, sie sollen nicht gleich sein. Dieses Recht muß anerkannt werden. Innerhalb verschiedener Nationen, Rassen und Persönlichkeiten. Daß sie dabei die gleichen Rechte haben müssen, ist selbstverständlich.

Das Recht muß anerkannt und selbstverständlich werden, das Recht, anders zu sein.

Interview: Julio Godoy