Gärten des Lebens

■ Im November fallen auf den Friedhöfen die Blätter/ Erinnerungen, angeregt vom Besuch eines jüdischen Friedhofs

Es war schon fast dunkel, als der Trauerzug aufbrach. An seiner Spitze bewegt sich rhythmisch und majestätisch die Feuerwehrkapelle, die mit auffallender Einfachheit den Trauermarsch von Chopin spielte. Den Musikanten folgte ein Pferdewagen, auf dem sich der kleine Sarg von Marius, unserem Spielkameraden, befand.

Der Weg zum Friedhof war lang und führte streckenweise durch einen Wald. Wir hatten alle ein bißchen Angst und klammerten uns an unsere Eltern und älteren Geschwister, horchten den Gesprächen der Erwachsenen und den Lauten der Trauermusik und betrachteten den freien Himmel, der an diesem kühlen Abend im November 1959 besonders klar und schön war.

In der unmittelbaren Nähe vom Friedhof befand sich ein kleiner Dorfrummel. Von dort mischten sich plötzlich ganz andere Töne in unsere Trauerfeier ein. Wir warteten ungeduldig auf das Ende der Beisetzungszeremonie, in der Hoffnung, daß wir die Eltern dazu überreden könnten, uns wenigstens eine Karussellfahrt zu genehmigen. Wir hatten alle lange genug getrauert über den Tod des kleinen Jungen. Die Eltern wehrten sich stark gegen den Rummelbesuch. Es gab ein paar Wutsausbrüche beiderseits, bis sie endlich aufgaben und wir uns mit dem Siegestrophäen — Zuckerwatte am Stiel — in den Händen nach mehreren Karussellrunden wieder nach Hause begaben.

In meiner Kindheit und Jugend in Polen gehörten der Tod und das Begräbnis stets zum Leben und wurden uns Kindern nicht vorenthalten. Es gab genügend Anlässe, Friedhofe zu besuchen. Am interessantesten aber war der obligatorische Friedhofsbesuch am Tag der Allerheiligen. In der modernen Form des polnischen Totenkultes verschmelzen zwei Traditionen: die altertümliche und die christliche. Im Altertum glaubte man, daß am Zaduszki-Tag die Toten die Lebenden aufsuchen. Man hielt die Wache und empfing die Geister mit festlichem Essen und Getränken. Speis und Trank wurden später durch Blumen, Kerzen und Fähnchen mit christlichen Symbolen ersetzt.

Die Friedhöfe in Berlin, besonders die evangelischen, unterscheiden sich wesentlich von den polnischen. Die Gräber sind, aufgrund der Feuerbestattung, sehr klein. So klein, daß mir, als ich vor Jahren auf einem Friedhof arbeitete, schien, als wären in Berlin nur Kinder begraben. Zusammen mit meiner Freundin Anna halfen wir damals beim Dekorieren der Gräber für den Totensonntag. Aus mehreren Dekorationsmaterialien: grünen und blauen Tannenzweigen, Moos, Mohnköpfen und künstlichen Blumen kreierten wir kunstvolle Gestecke. Ein hoher Friedhofsangestellte achtete darauf, daß wir auch wirklich alle Teile verwendeten. Er war mit unserer Einstellung, lieber weniger als zuviel, gar nicht einverstanden. Seine Auftraggeber, vor allem alte Frauen, erwarteten für ihr Geld entsprechende dekorative Fülle und Pracht. Wir versuchten trotzdem, die Qualität trotz der Quantität aufrechtzuerhalten.

Unter den vielen alten Damen, die man auf Friedhöfen trifft, sind immer welche, die ihre Männer und Söhne im Krieg verloren haben. Sie sind oft die einzigen, die am Totensonntag den deutschen Soldaten gedenken, deren Gräber sich in den fremden Ländern befinden oder unbekannt sind.

Anonymität und das Vergessen

Die moderne Gesellschaft tendiert dazu, den Totenkult zu vereinfachen. Die anonyme Bestattung findet immer mehr Anhänger.

Am letzten Sonntag im Oktober dieses Jahres besuchten wir den jüdischen Friedhof in der Heerstraße: Darina, ein freundliches Mädchen aus einem Asylbewerberheim, mein Freund Mario und seine zwei Kinder, der fünfjährige Marian und der vierjährige Marco. Die Kinder waren ruhig und gelassen und freuten sich auf ein neues Erlebnis. Der Friedhof machte einen kalten, aber sehr ästhetischen Eindruck. Der jüdische Glaube verbietet jede Art von Prunk auf Friedhöfen. Die gepflegten Denkmäler aus schwarzgrauem Marmor waren schön und elegant, die Schriften in hebräischer und deutscher Sprache waren schlicht. Viele Namen derjenigen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben, waren polnisch, manche russisch. Die Gräber in dem vorderen Teil des Friedhofs erinnerten an Auschwitz.

Die Kinder interessierten sich für die vielen kleinen Steine, die auf mehreren Denkmälern lagen. Jeder Stein erinnert an einen Besuch, erklärten wir ihnen, und die Jungen fingen sofort an, eifrig nach für diesen Zweck geeigneten Gräbern zu suchen. Ausgewählt wurden diejeniegen, die bis jetzt keinen oder nur wenige Steine erhalten hatten. Besonders angetan davon war der kleine Marco, der sich auch viele Inschriften vorlesen ließ und jedes Satzende »verstorben am ...« mit dem lakonischen Wort »schade« kommentierte.

Gleich nebenan fand gerade ein Begräbnis statt. Das neue Denkmal war mit einem Tuch bedeckt. Der Rabbi sprach zu den Hinterbliebenen zuerst auf Hebräisch, dann auf Deutsch. Er gab uns mit einem mißbilligenden Blick zu verstehen, daß wir ruhig sein sollten. Langsam machten wir uns auf den Heimweg.

Die Juden halten ihre Jugend von den Toten fern. Mein telefonischer Gesprächspartner von der jüdischen Gemeinde zu Berlin war entsetzt, als ich ihm meine Absicht mitteilte, mit jüdischen Jugendlichen aus der Sowjetunion den alten Friedhof in Weißensee zu besuchen. Er empfahl mir, mit den Kindern lieber ins Kino zu gehen.

Der Friedhofsbesuch kam aber aus einem anderen Grund nicht zustande. Es wurde uns aus Sicherheitsgründen abgeraten. Die Friedhofsgegend avanciert in der letzten Zeit zu den beliebtesten Treffpunkt der Skinheads. Man hat sogar den Schutz und die Überwachung der ganzen Gegend verstärkt.

Seit einiger Zeit fühlt man sich in Berlin nicht mehr sicher. Ausländerfeindliche Stimmung und steigende Gewalt zwingen manchen der Fremden, die Berlin als ihre Heimatstadt angesehen haben und sich irgendwann hier begraben lassen wollten, nun ihren Entschluß neu zu überdenken. Hoffentlich gibt es aber in Berlin genügend Kinder, die auch die Gräber der damaligen Feinde ihre Eltern pflegen werden. Barbara Nowakowska-Drozdek