Getäuscht von Eurer Propaganda

■ Ich entschuldige mich bei meinen Töchtern für die Illusion, daß der Mensch überall gleich ist

An meine Kinder

Dreißig Jahre sind vergangen — was fasziniert mich an diesem Kontinent? Ist es die Magie der Wissenschaft, deren Tür uns immer verriegelt bleibt? Oder sind es die lauten Slogans von Menschenrecht, von Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit, die nur dann gerufen werden, wenn sie nützlich sind?

Die Beziehungen zwischen Europa und der Dritten Welt werden so gestaltet, wie es den europäischen Interessen entspricht. Seit 500 Jahren beherrschen sie uns, denn sie haben das Monopol der überlegenen Waffen. Das glorreiche Werk begann mit der »Entdeckung« Amerikas, Afrikas und der Nilquellen. Sie »entdeckten«, was lange vor ihnen und ohne sie existierte, sie fanden hochstehende Kulturen, von denen sie nichts wußten. [Die Europäer haben spirituell und geistig viel höher stehende Kulturen mit ihrem bornierten Materialismus einfach plattgewalzt — d.S.] Die Ignoranz wurde belohnt. Männer wie Kolumbus, Pizarro und Livingstone wurden zu Helden gemacht. Die Massenmorde aber, die Blutbäder wurden und werden nicht bestraft. Denn das Blut von Indianern und Afrikanern, von Asiaten und Australiern ist nicht so rot wie europäisches Blut. Wenn wir tiefer eindringen in diese Geschichte, dann schämen wir uns für sie. Sie kamen zu uns mit der Gewalt ihrer Waffen. Sie haben uns geformt, wie sie wollten. Wir mußten alles über sie lernen. Von den kleinsten Details ihrer Geographie bis zu den größten Ereignissen ihrer Geschichte.

Ich kenne sie von ihrer barbarischen Frühzeit bis zu dem Tag, als John Wayne und die Indianer aufgeführt wurde, als Der unsterbliche Tarzan und die Buschmänner auf dem Programm stand.

Dann kamen wir nach Europa. Wir haben uns täuschen lassen von ihrem Glanz, von ihrer Reklame, von ihrer Wissenschaft, Zivilisation und Kunst. Wir kamen, um von ihnen zu lernen, denn die Propaganda dringt zu uns in jede Hütte, in jedes Loch, 24 Stunden am Tag hämmert sie auf uns ein. Wir kamen, um ihre neuesten Entwicklungen zu sehen. Als ich kam, hatte ich mit mir selbst keine Probleme, ich war nie auf den Gedanken gekommen, daß ich schwarz sei. Ich betrachtete mich als normalen Menschen, der von anderen lernen will. Ich meinte, die Erde sei klein, und die Menschen seien gleich.

Aber seitdem sind 30 Jahre vergangen. In dieser Zeit habe ich tatsächlich als Fremder gelebt. Immer wird mir gezeigt, daß ich nicht dazugehöre, und zwar in allen Formen — auf »zivilisierte« Weise oder ganz primitiv, wie wir es zur Zeit erleben. Wir leben in einem ständigen Bürgerkrieg, in ewiger Einkreisung. Wir können uns nur in eigenen Gebieten frei bewegen, und es gibt weite Bezirke, in die wir uns nicht wagen dürfen.

Ich erstarre, wenn ich lese, was dem jungen Mann aus Sri Lanka in Saarlouis geschehen ist. Mein Magen verkrampft sich, wenn ich von den beiden kleinen Mädchen aus dem Libanon lese, die fast verbrannt sind, oder wenn ich von der kollektiven Vertreibung aus Hoyerswerda höre. Dasselbe kann auch meinen Kindern passieren, meinen Freunden oder mir selbst.

Kannst Du dir vorstellen — Du flüchtest aus Deinem Land, wirst von Militärs verjagt, vom Hunger, von allem, was einen Menschen aus seinem Land vertreiben kann. Und in Deinem Zufluchtsort, in den ersten Tagen schon, schreit die ganze Stadt: »Ausländer raus, oder wir schlagen dich tot!« Wenn Du dann wieder flüchtest, klatschen und jubeln sie wie auf einem Volksfest. Dann wirst Du Dich fragen: Wo soll ich hin? Du wirst keine Antwort finden. Du bist unerwünscht.

Unerwünscht — aber inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Die Jugend ist verbraucht. In dieser Zeit bin ich von meinen Wurzeln abgetrennt worden. Mein Land ist nicht mehr mein Land. Die meisten Menschen, die ich geliebt habe, aus meiner Familie und meinem Freundeskreis, sind tot. Und das Land, das einmal meine Geliebte war, hat sich über die Jahre immer weiter entfernt, wie eine Fata Morgana, die man niemals berühren kann. Die Bilder aus der Kindheit, die Szene des ersten Abschieds von zu Hause und die Sehnsucht, meine Familie zu besuchen, ist verblaßt. Aus der Sehnsucht ist Traurigkeit geworden, die in den Augenwinkeln eingefroren ist. Du hast die Vergangenheit verloren, du hast dich von einem Land entfernt, das dich mit aller Kraft in den Armen hielt. Du warst mit den anderen in einem Boot und hattest dasselbe Schicksal wie sie. Jetzt lebst du in einer Gegenwart, die keine Zukunft hat.

Wir haben uns niedergelassen, wir haben gepflanzt, wir haben Kinder in die Welt gesetzt. Doch wer pflanzt, sollte wissen, wo. Ich sage Euch offen, meine Kinder, daß es ein Fehler war, obwohl Ihr schön seid. Ich wußte nicht, wo ich gepflanzt habe. Ich hasse es, in einem Land zu leben, in dem ich unerwünscht bin. Ich weiß nicht, welchen Grad an Diskriminierung ich als Afrikaner auf der Skala der Verachtung zur Zeit erreicht habe. Ich fürchte mich für meine kleinen Töchter vor einem Wort, das »Neger« heißt, vor einem Wort, das »Kanake« heißt, und vor allen anderen Worten, die einen Menschen erniedrigen können. Ich habe Angst vor Haß oder Dummheit, die zu Gewalt werden.

Wie kann man in einem Land in Angst und Unsicherheit leben? Wir leben immer in Angst, wenn wir ausgehen und uns draußen bewegen. Ich entschuldige mich bei meinen kleinen Töchtern für meine Illusion, daß der Mensch überall gleich ist. 30 Jahre habe ich mich belogen, und Ihr müßt die Folgen tragen. Salah Yousif

Mitarbeit an der deutschen Textfassung: Manuel Sinnen