DEBATTE
: Der deutsche Machtkomplex

■ Das vereinigte Deutschland sucht eine neue Außenpolitik

Der Bruch in der deutschen Geschichte liegt beinahe zwei Jahre zurück — doch in der Bonner Außenpolitik ist er kaum wahrnehmbar. Die hat sich dem Tempo „nationaler“ und internationaler Veränderungen nicht angepaßt. Vom Golfkrieg bis zur Madrider Konferenz und vom Zusammenbruch des Sowjetreichs bis zur Jugoslawienkrise reichen die Herausforderungen. Darauf müßte die europäische Diplomatie, wenn schon nicht mit konzertierten Aktionen, doch zumindest mit reger Aktivität von allen Seiten reagieren. Doch stattdessen ist das vereinigte Deutschland — zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und führend im Handel auf dem alten Kontinent — sich selbst und den drängenden Problemen des ausgehenden 20. Jahrhunderts entrückt.

Heute stellt sich für Deutschland nicht länger die Frage nach seiner Fähigkeit, sondern nach seiner Bereitschaft, sich wie eine Großmacht von internationaler Bedeutung zu verhalten. Anders ausgedrückt: Sind die Deutschen gewillt, ihre Position als simpler Geldgeber zugunsten einer anderen, ihrem neugewonnenen Status entsprechenden Rolle aufzugeben? Der Chef des Auswärtigen Amtes tut sich schwer mit einem entschiedenen und klaren Schritt nach vorn. Vielmehr vermittelt die deutsche Außenpolitik den Eindruck von zaudernden Aktivitäten und ziellosen Winkelzügen. Warum? Hat Deutschland Angst, durch die Übernahme einer führenden Rolle in der internationalen Politik seine Partikularinteressen zu gefährden? Oder ist es schlicht befangen angesichts der zugegeben widersprüchlichen Erwartungen und Befürchtungen seiner Partner?

Zweifellos muß sich Deutschland mit einem begrenzten Handlungsspielraum arrangieren: Einerseits warnen die amerikanischen, britischen und französischen Verbündeten diskret, aber unüberhörbar davor, daß Bonn sich aus der Verantwortung zieht. So hat das moderate Vorgehen der Bundesrepublik während des Golfkrieges den Ruf der Deutschen als solidarische Bundesgenossen in turbulenten Zeiten geschädigt — die verfassungsrechtlichen Bedenken allein reichen nicht zur Erklärung oder Rechtfertigung aus. Andererseits könnte eine aktivere Politik der Bundesregierung leicht den Vorwurf einhandeln, sie wolle die Vorreiterrolle spielen. So könnte Deutschland etwa den Jugoslawienkonflikt nutzen, um sich von der Position der EG abzusetzen, und sich Mitteleuropa (wieder) zuzuwenden, das es früher schon einmal als seinen Hinterhof betrachtet hat. Bonn — oder Berlin — befindet sich also in einem Dilemma: Es muß vermeiden, zu präsent zu sein, ohne sich zugleich der Kritik auszusetzen, sich zu wenig in regionalen Spannungen zu engagieren.

Darüberhinaus ist Deutschland auf der Suche nach einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen seinen ökonomischen Interessen — der Basis der Machtposition der ehemaligen Bundesrepublik — und einer aktiveren außenpolitischen Rolle, wie sie aus der Vereinigung folgen muß. Die führende Position der alten Bundesrepublik im Welthandel hat dazu beigetragen, enge Verbindungen mit verschiedenen, zum Teil untereinander verfeindeten Partnern herzustellen, etwa im Nahen Osten.

Die Auswirkungen dieses widersprüchlichen Engagements sind nur so lange unproblematisch, wie Deutschland keine führende Rolle in der internationalen Politik anstrebt. Bislang hat die Bundesrepublik aufgrund ihres historischen Erbes am Dritten Reich und wegen der angestrebten Öffnung für den Welthandel an einer neutralen Position festgehalten. Es hat freiwillig auf die Entwicklung einer auf Macht und Einfluß gerichteten Strategie verzichtet. Gewiß, es haben ihr auch die Mittel dazu gefehlt — nicht zuletzt das militärische Potential, das Glaubwürdigkeit und Autorität verleiht.

Aber wie sieht das heute aus, da die Bundesrepublik von allen Seiten aufgefordert wird, auf internationaler Ebene zu intervenieren? Zwar fehlen ihr für einen gleichberechtigten Part im Konzert der Weltmächte noch einige Instrumente, doch ihr diplomatisches Potential ist nicht zu unterschätzen: Hans-Dietrich Genscher hat den Vorsitz des Krisenausschusses der 35 KSZE-Staaten und der WEU inne und mit dem Generalsekretär Manfred Wörner steht ein Deutscher an der Spitze der Nato.

Angesichts dieser Situation ist das verfassungsrechtliche Argument gegen einen möglicher Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Nato-Gebietes vorgeschoben: eine Verfassung kann geändert werden, wenn der Wille und die Überzeugung zur internationalen Verantwortung bestehen. Die Bundesrepublik vernachlässigt ihre historischen Pflichten in der Gegenwart. Sie ist fünftgrößter Waffenexporteur der Welt und nimmt hinter Jordanien den zweiten Rang unter jenen Ländern ein, die das UN-Embargo gegen den Irak verletzen. Dabei stellt sie sich zugleich ungestraft als Vorreiterin einer aktiven „Friedenspolitik“ dar. Die Bundesrepublik kann diesen zweifelhaften, im Grunde noch immer von einer rein wirtschaftlichen Logik gelenkten Kurs nicht weiter steuern. Ein „gutes Gewissen“ wird anders als durch Hiebe mit der D-Mark verdient. Widersprüchlich allerdings ist nicht nur die Haltung der Bundesrepublik, sondern auch die ihrer Kritiker. Israel zum Beispiel blieb Nutznießer der deutschen „Honorare“ (humanitäre Hilfe) während des Golfkriegs, auch wenn es wußte, daß gleichzeitig Jordanien, Syrien und Ägypten Wirtschafts- oder Kriegshilfe empfingen.

Das Deutschland der 90er Jahre täte gut daran, seinen Machtkomplex zu überwinden, will es nicht das Mißtrauen seiner Partner und Verbündeten auf sich ziehen. Jede weitere politische Enthaltsamkeit der Deutschen stünde einer neuen Weltordnung im Wege. Es reicht nicht, die optimale Lösung nur darin zu sehen, sich zur Sicherung des Weltfriedens ausschließlich an den UN-Friedenstruppen zu beteiligen. Um wirklich glaubwürdig eine Position als vermittelnde Macht einzunehmen und eine stabilisierende Rolle zu spielen, muß Deutschland sich eine politische und militärische Legitimität verschaffen. Dies würde jedoch, wie gesagt, gerade die Bereitschaft zur internationalen Verantwortung voraussetzen, die dem zur Weltmacht aufgestiegenen vereinten Deutschland noch abgeht. Sylvie Lemasson

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d'Etudes et de Recherches Internationales (CERI/FNSP-Paris)