Schlacht ums Himmelreich

■ Back to the future: Ein Zeitungsbericht vom 9.November 1999

Bundeskanzler Volker Rühe unterbrach gestern seinen Winterurlaub in Wolgograd, um an der Sondersitzung im Parlament teilzunehmen. Er verurteilte auf das schärfste die anhaltende Welle der Gewalt in der ostdeutschen Stadt Breslau und sagte immer wieder sich selbst, daß Deutschland ein ausländerfreundliches Land sei.

Nach den Schilderungen Einheimischer begannen die heftigen Ausschreitungen gestern früh in der schlesischen Landeshauptstadt, als zwei Franzosen im Restaurant ihr „Schlesisches Himmelreich“ nicht ordentlich aufessen wollten. Obendrein hätten sie sich (vor)laut in einer fremden Sprache unterhalten, obwohl sich Deutsche in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielten. Die darauf folgende Straßenschlacht dauerte etwa elf Stunden. Die beiden Franzosen konnten der aufgebrachten Menge entkommen und halten sich jetzt an einem unbekannten Ort in Sachsen auf.

Bundespräsident Schäuble äußerte sich ebenfalls sehr besorgt über die negative Entwicklung in dem neuen Bundesland, führte jedoch die Ursachen für diese Mißstände auf die ehemalige polnische Wirtschaft zurück und forderte mehr Verständnis für die Bewohner der fünf neuen Bundesländer (Schlesien, Westpreußen, Ostpreußen, Pommern und Sudetenland), die erst mal lernen müßten, mit ihrer neugewonnenen Freiheit umzugehen. Gleichzeitig verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, daß der Terror nicht gegen andere Minderheiten gerichtet wird. Ein Pogrom gegen Rollstuhlfahrer werde er beispielsweise nicht dulden, betonte er gestern in einem Interview mit dem Walhalla-Plus-Fernsehen in Berlin.

Etwas humanistische Imagepflege sei erforderlich, fügte der Präsident hinzu, gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele im nächsten Jahr in der deutschen Hauptstadt und die damit verbundene internationale Aufmerksamkeit. Darüber hinaus kündigte Schäuble härtere Maßnahmen gegen Rechtsradikale an. Es gehe nicht an, daß ausländische Olympia-Gäste oder sogar ausländische Leistungssportler auf unseren Straßen verbal oder tätlich angegriffen werden. Dies entspreche nicht der Olympischen Idee und würde nicht geduldet werden.

Weiter rief der Bundespräsident alle in Deutschland lebenden Ausländer auf, mehr Toleranz und Verantwortung zu zeigen im Umgang mit Deutschen. Jeder Ausländer, der sich anzünden oder zusammenschlagen lasse, schade in erheblichem Maße dem Ansehen der Bundesrepublik.

Gleichzeitig dementierte Schäuble das Gerücht, daß demnächst ein Euro-Arischer Ausweis in allen EG-Ländern eingeführt werden soll — eine entsprechende Idee war am CDU-Parteitag im märkischen Oggerswalde geäussert worden. Der Gedanke wurde jedoch vom Ausländerbeauftragten als rassisch unhygienisch abgelehnt.

Morgen wird sich Bundeskanzler Rühe mit albanischen Waisenkindern fotografieren lassen und hofft dadurch, der negativen Berichterstattung in der ausländischen Presse entgegenzutreten. Ein Sprecher des Außenministeriums bestätigte, daß der Bundeskanzler sehr empfindlich auf die unsachliche und hetzerische Art der Berichterstattung in den Nachbarländern reagiert habe. Die jetzige Verstimmung zwischen Deutschland und dem Königreich Moldau sei ein direktes Ergebnis der moldauischen Diffamierungskampagne gegen die Bundesrepublik.

Auf einem Empfang für rehabilitierte Steuerhinterzieher in der Berliner Graf-Lambsdorff-Halle kam es gestern abend zu Handgreiflichkeiten zwischen dem BuKa und einer militanten Gruppe von Ausländern. Die Ausländer warfen ihm eine indifferente und überhebliche Haltung vor. Auf Transparenten forderten sie die Regierung auf, den von offizieller Seite betriebenen Mißbrauch des Wortes „Ausländer“ einzustellen und die seit sechs Jahren geschlossenen Grenzen für Flüchtlinge aus den Notstandsgebieten wieder zu öffnen. Weiter verlangten sie, daß ihnen das kommunale Wahlrecht (wie überall sonst in Westeuropa üblich) endlich eingeräumt wird. Nach ihrer gewaltsamen Entfernung aus dem Saal bezeichnete der Bundeskanzler ihre Forderungen als unverschämt und verwies auf die hohe Zahl von Hugenotten, die 1685 aufgenommen wurden, und auf die lange Tradition der Toleranz in Preußen. Zur Öffnung der Grenzen sagte er, daß dies nicht im Interesse der Ausländer sei und daß es ohnehin mit einer Verfassungsänderung verbunden wäre. Da die CDU die Verfassung sowie die Menschenwürde für unantastbar hält, komme eine (derartige) Verfassungsänderung nicht in Frage. Neil Spence