Ran an die Gans!

Berlin (taz) — Nach altem Brauch wird am 11. November die Martinsgans verspeist. Im bäuerlichen Leben war dieser Tag der Abschluß des Wirtschaftsjahres und wurde mit besonderen Schmausereien gefeiert.

Mit dem Heiligen Martin (336 — 401), einem ausgewiesenen Asketen, steht der Tag nur in äußerst oberflächlichem Zusammenhang. Der über ganz Europa verbreitete Brauch geht vielmehr auf ein heidnisches Erntedankfest zurück. Die Gans verkörpert darin einen ursprünglichen Vegetationsgeist, der getötet, verzehrt und dadurch fürs Leben nutzbar gemacht werden muß.

Die Martinsgans galt als heilkräftig. In Ungarn sollte ihr Fett gegen Gicht helfen, ihr Blut gegen Fieber gut sein. Eine Feder des linken Flügels, zu Pulver gebrannt und in Wein gemengt, sollte Epileptikern helfen. Nagelte man den linken Fuß der Martinsgans ans Haus, so war es vor Feuer und anderen Unglücksfällen gesichert. Wer die Schuppen von den Gänsefüßen in die Schuhe legte, schützte sich gegen Schweißfüße und Hühneraugen. In Böhmen gab der Hausherr der Großmagd ein Bein, damit sie tüchtig laufen und dem Lehrling einen Flügel, damit er bei der Arbeit fliegen sollte.

Aus dem Brustbein der Martinsgans werden Weissagungen über den Winter bezogen. Ein Spruch, der heute überprüft werden sollte, lautet: „Ist Sankt Martins Gans am Brustbein braun, wird man mehr Schnee als Kälte schaun. Ist sie aber weiß, kommt weniger Schnee als Eis.“

Der Volksmund warnt aber auch vor Exzessen beim Festschmaus, dessen Höhepunkt das Verzehren der Martinsgans ist: „Wer zu oft hält Martinsnacht, hat bald sein Haus und Hof durchgebracht“, besagt ein Spruchvers. Und unter einem „Martinsmann“ versteht man einen Menschen, der sich durch Völlerei zugrunde richtet. Im Französischen ist „martiner“ ein Ausdruck für übermäßiges Fressen, und ein verdorbener Magen heißt „mal de St.Martin“. Fritz O'Scheen