Fidelio am Original- schauplatz

Johannes Schaaf inszeniert Beethovens Oper in Amsterdam  ■ Von Frieder Reininghaus

Eine mediterrane Landschaft hinter dem hohen Gitter: Ölbäume auf dem Hügel, soweit das Auge reicht. Hinter zwei Wassertonnen ein Eßtisch unter der Strohmatte, die das Leben im Freien bei so gleißender Sonne erst wieder möglich macht; Marzelline bräunt sich, wenn die Ouvertüre verklungen ist und einer irritierenden Pause Platz gewährt wird. Doch es ist kein Tennisplatz an der Riviera, den das Bühnenbild von Peter Papst am Muziektheater Amsterdam nachbildet. Eine Doppelstreife kommt des Weges, hat einen Schäferhund dabei, den spezifisch deutschen Beitrag zur internationalen Wach- und Schließkultur. Doch der Fidelio spielt in der Inszenierung von Johannes Schaaf nicht in den Jahren nach 1933, nicht in Nazi-Uniformen und hinter KZ-Zaun, sondern später und südlicher.

Jenseits Franco

Ist da eine griechische Gefängnisinsel in der Zeit der Militärjunta gemeint? Ein portugiesisches Lager der Ära Salazar? Ein Camp des Jahres '91 für „Staatsgefangene“ an der Ostküste der Adria oder in der Levante? Erst wenn die spanische Flagge zum Auftritt des Gouverneurs Pizarro aufgezogen wird, ist eindeutig: Diesmal findet Fidelio am Originalschauplatz statt. Nur eben nicht in der Zeit um 1780, sondern zweihundert Jahre später, als das Land im Übergang von der Franco- Diktatur zur konstitutionellen Monarchie und demokratisch-zivilen Lebensformen begriffen war.

Der Blick geht in Richtung der nach Sevilla führenden Straße. Diese Landschaft der Urlaubssehnsucht mit ihren tiefen Ackerfurchen und dem betörend blauen Himmel im Hintergrund, mit der offenherzig liebeswilligen Schließerstochter vorne rechts und dem relativ unscheinbaren Bunkereingang halblinks auf dem trockenen Sandplatz, auf dem ein paar Ginsterbüschchen vor sich hinwelken, dieses Ambiente ist ein bewußt gesetztes Kontrastmodell zum Beschwören der wohlfeilen KZ- und Bautzen-Bilder, an die wir uns im Kontext der Beethoven-Musik gewöhnten und die doch ihr aufklärerisches Brio längst zugunsten antifaschistischer oder anti-DDRischer Routine aufgegeben haben. Endlich wieder einmal ein Fidelio, der dicht am historischen Text (und mit nur einem Transpositionsvorgang) demonstrierte, daß unsere Augen sich immer wieder an die „Normalität“ der den „Staatsgefangenen“ (und überhaupt den Inhaftierten) zugemuteten Lebensbedingungen gewöhnen.

Nicht das Concertgebouw-Orkest verwöhnt diesmal die Ohren der niederländischen Opernfreunde; Hanns-Martin Schneidt, vormals Dirigent in Wuppertal und jetzt Leiter des Münchener Bach-Chors, bekam nur das Nederlands Kamerorkest met uitbreiding unter die Hände — mit „Ausbreitung“, Aushilfen also. Dieser zusammengestoppelten Truppe war nicht immer ein homogener Klang zu entlocken. Doch wenn man über solche Einbuße an musikalischer Qualität hinwegzuhören bereit war, dann konnte der hervorragende Chor dafür entschädigen, und die gekonnt-biedere Vorführung des Kerkermeisters Rocco durch Hans Tschammer, als dessen Tochter Marzelline Stella Kleindienst beste kleine Dienste erwies.

Ja, die Gattenliebe

Josephine Barstow, gefeiert an den meisten Opernhäusern der westlichen Welt, wirkte in der ersten Halbzeit ziemlich gehemmt; ihre Jünglingshaftigkeit wirkt szenisch plausibel, da sie ja als junger Mann verkleidet in den Hochsicherheitstrakt gelangt. Dem großen Ende zu lief sie zu großer Form auf — wenn sie die Beretta zieht, um den schurkischen Gouverneur in Schach zu halten, kann ihr Gesang genau der Dramatik des Augenblicks entsprechen; überzeugend vor allem im Duett mit dem vorzüglichen amerikanischen Tenor Thomas Moser, der in der Kerkerszene zunächst in Stein eingeschlossen bleibt und nur mit dem Kopf agieren kann. Er stellt auf glaubwürdige Weise den lebendig Begrabenen dar. Rocco holt ihn aus der Betonröhre auf des Pizarros Geheiß, der mit dem „Aufrührer“ abrechnet und ihn mit dem Stilett endgültig ins Jenseits befördern will.

Doch da kommt ihm bekanntlich die zur Tat schreitende Gattenliebe dazwischen. Und der Herr Minister der nach-francistischen Ära trifft ja, Gott sei Dank, auch gerade noch zur rechten Zeit ein, um die gewalttätige Gefangenenbefreiung zu legalisieren. Da bleibt dem trockenen Sand nichts anderes übrig, als in tausend roten Nelken zu erblühen. Das macht sich im Kunstblumenland ausgesprochen witzig. Es akzentuiert das komische Moment, das in Beethovens so grandios mißratener Oper auch steckt.

Der Verdienst dieser Produktion liegt darin, daß sie die Bruchlinien des Werks nicht kaschiert und am Ritual „Geschichtsbewältigung in Deutschland“ nicht festhält, sondern sich zurück auf Sevilla bezieht. Gerade diese Distanzierung öffnet wieder Ohr und Blick für das Stück.