Die geschlossene Gesellschaft von Werl

■ In der Reformanstalt von Werl wird gegen 46 Gefangene das "letzte kriminalpolitische Mittel" angewandt: die Sicherheitsverwahrung. Diesem Klientel soll der Hang zum Verbrechen "zur zweiten Natur"...

Die meisten Mörder haben einen eisigen Blick. Ihre Nase ist groß, der Kiefer starkknochig. Oftmals haben sie einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die großen Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend und drohend.“

Dieses mittelalterlich klingende Zitat aus Der geborene Verbrecher, eine kriminalanthropologische Studie des Italieners Cesare Lombroso (1839 bis 1909), ist hundert Jahre alt. Lange Zeit beeinflußte seine Lehre vom „geborenen Verbrecher“ die Diskussion unter Kriminologen. Lombroso empfahl in seinen Schriften, die Gesellschaft von diesem „Typus Mensch“ zu befreien, den er an das Ende der Tierreihe einordnete; das heißt: lebenslange Haft oder Todesstrafe.

Heute glaubt keiner mehr den gefährlichen Unsinn, daß „kriminelle Energie“ auf zuammengewachsene Augenbrauen zurückzuführen sei. Kriminelles Verhalten wird zu allererst durch miserable Lebensumstände wie Prügelerziehung, mangelnde Schulbildung, Wohnungsknappheit und Arbeitslosigkeit provoziert. Solange es sich eine Gesellschaft leisten kann, daß Menschen in den ersten Lebensjahren chancenlos und unversorgt aufwachsen, solange riskiert sie einen hohen Anteil von sozialisationsgeschädigten Menschen, die anfällig für „abweichendes Verhalten“ sind.

Schon 1905 forderte Lombrosos Antipode, der Rechtsgelehrte Franz von Liszt (1851 bis 1919), die Abschaffung der Todesstrafe. „Eine gute Sozialpolitik“, sagte er, „ist die beste Kriminalpolitik.“ Zur Wiedereingliederung von Delinquenten verlangte von Liszt allerdings einen zielbewußten Eingriff in die Freiheit der Straftäter: „Strafe ist Prävention durch Repression.“ Sie solle nach seinen Vorstellungen „den besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher zu bessern versuchen. Den nicht besserungsbedürftigen Verbrecher abschrecken und den nicht besserungsfähigen Verbrecher unschädlich machen“ — ohne ihn zu töten.

In die heutige Terminologie übersetzt bedeuten seine Grundsätze, daß Strafzwecke dazu dienen sollen, jeden Straftäter wieder zu resozialisieren, bereits straffällig gewordene Delinquenten vor weiteren kriminellen Handlungen abzuschrecken und sogenannte „sozialgefährliche Straftäter“ sicher zu verwahren.

Mit seinen Rechtspostulaten lieferte von Liszt ein Fundament für das geltende dualistische Strafrecht (Strafe/Maßregel). Einerseits werden nach dieser Rechtsauffassung Freiheitsstrafen — einschließlich der lebenslänglichen — zum Schuldausgleich verhängt. Parallel dazu sieht das Strafrecht einen Katalog von „Maßregeln zur Sicherung und Besserung“ vor, die „zum Schutz der Allgemeinheit“ richterlich angeordnet werden können. Von diesen Instrumenten ist die Sicherungsverwahrung (SV) die umstrittenste Maßregel. Konkret bedeutet sie, daß ein Krimineller mit dem „Hang zu erheblichen Straftaten“ im Anschluß an seine verbüßte Straftat die Sicherungsverwahrung antreten muß. Diese „Vorbeugehaft“ soll beim ersten Mal nicht länger als zehn Jahre dauern. Nur die wiederholt verhängte SV kann unbegrenzt vollzogen werden. Es sei denn, das Gericht befindet — gestützt auf ein Gutachten —, daß beim Verwahrten „Persönlichkeitsdeformationen“ eingetreten sind, die eine Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie erforderlich machen.

Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl im Landkreis Soest, ist die einzige Institution in Nordrhein-Westfalen, in der männliche Sicherungsverwahrte staatlich gemaßregelt werden können. Auf diesem ehemaligen Zuchthausgelände, das vom äußeren Charakter an die frühere innerdeutsche Grenze erinnert, büßen und arbeiten insgesamt 750 „stark kriminell gefährdete“ Männer. 46 Gefangene „behandelt“ die Justiz im Hafthaus III in der SV. (Zur Zeit gibt es 162 Verwahrte in JVAs der alten Bundesländer. Der SV-Paragraph ist in den Einigungsvertrag übernommen worden.)

Höchste Sicherheitsstufe und doch kein Zuchthausmief

Die JVA Werl gilt als Reformanstalt im Vollzugsbereich Westfalen- Lippe, was den Anhängern des Sühnegedankens ein Dorn im Auge ist. Im Juli dieses Jahres schrieb die 'Faz‘ im NS-Jargon, die „Anstalt für Schwerstverbrecher“ (!) entwickele sich zu einer „Drogenhochburg“. Und vor zwei Jahren sprach die Gewerkschaft ÖTV von einer „Bordellisierung“ der JVA, weil dort in einer Langzeitbesuchszelle verheiratete Gefangene mit ihren Frauen zwei Stunden allein sein können.

Um das soziale Verhalten und die Eigenverantwortng der Häftlinge zu fördern, begann das Staatshochbauamt Soest 1986 die Werler Anstalt mit einem Kostenaufwand von über zehn Millionen D-Mark gründlich zu sanieren. Aus dem komplett renovierten Hafthaus III verschwand der Zuchthausmief. Man schuf die räumlichen Voraussetzungen für kommunikative Wohngruppeneinheiten. Doch bei allen verbesserten Lebensverhältnissen der Gefangenen ist die JVA Werl kein Sanatorium, sondern ein Knast der höchsten Sicherheitsstufe.

„Der Bürger täte sich mit einem unmenschlichen Vollzug überhaupt keinen Gefallen“, sagt Doktor Klaus Koepsel, Leiter der JVA Werl. „Wenn wir die Gefangenen wieder entlassen, dann müssen sie das Gefühl haben, daß sie der Staat nicht quälen wollte. Jeden, den wir verbittert und haßerfüllt entlassen, den entlassen wir als hohes Risiko für die Allgemeinheit. Insofern zahlt sich der liberale Strafvollzug für den Bürger letztendlich aus.“

Detlef-Olaf F. aus B., 36 Jahre alt, aus dem Umfeld der Essener Rockergruppe „Hot Wheels“, gehört zu den jüngsten Sicherungsverwahrten in Werl. Seine kriminelle Karriere begann in früher Jugend. Er wuchs in einer Gegend auf, in der Gewalt zur Tagesordnung gehörte. Ohne gelernten Beruf bekam er keine Arbeit. Zum Sozialamt wollte er nicht gehen, weil er es unter seiner Würde empfand, „dort zu bitten und zu betteln“. Völlig verlor er den Faden, als harte Drogen wie Alkohol, LSD, Morphium und Heroin sein Leben diktierten. Jede Hilfe lehnte er ab. Mehrfach wurde er wegen schwerer Gewaltdelikte wie Raubüberfälle, gefährliche Körperverletzung und Vergewaltigung von der Justiz weggeschlossen. „Das war meine Art von Terrorismus, daß ich sagte, ich will mit dieser Gesellschaft so nicht leben, ich akzeptiere sie nicht. Das einzige, was noch fehlt“, sagt er, „ist Mord.“

Ein Gerichtsgutachter diagnostizierte ihm „sozialen Infantilismus“, aus dem in einem späteren Gutachten „eine Schizophrenie“ wurde. Im Oktober 1983 ordnete das Essener Landgericht neben einer vierjährigen Freiheitsstrafe die Sicherungsverwahrung gegen Detlef-Olaf F. an. „Vorausgesetzt, ich müßte die ganzen zehn Jahre SV abmachen, wäre ich 42 Jahre alt und hätte dann 23 Jahre meines Lebens im Knast verbracht.“

„Ich weiß gar nicht, wofür ich insgesamt vierzehn Jahre absitzen muß. Genaugenommen bin ich kein Strafgefangener, aber auch kein freier Mensch“, sagt Detlef-Olaf F.. „Was die Justiz mit mir macht, ist psychische Folter. Lebenslängliche gehen nach fünfzehn bis achtzehn Jahren wieder raus. Wenn ich das sehe, dann sage ich mir doch: Wenn ich raus komme, mache ich einen Raubüberfall, lasse einen liegen, dann sitze ich wegen Mordes. Dann weiß ich aber, für was ich sitze. Mit der Sicherungsverwahrung züchtet sich der Staat doch seine Verbrecher selbst.“

In den zwanziger Jahren installierten fast alle europäischen Staaten die SV in ihren Rechtsordnungen, was den Zwickauer Eugeniker Doktor Boeters dazu veranlaßte, eine Rechtsangleichung an diese europäische Norm zu fordern. Er empfahl 1924, man sollte „Sittlichkeitsverbrecher“, Epileptiker, Geisteskranke und solche Frauen, die zwei oder mehr uneheliche Kinder geboren haben, kastrieren. Als man 1928 im parlamentarischen Strafrechtsausschuß über die Annahme des Antrags der Deutschen Volkspartei zur SV diskutierte, warnte Kurt Tucholsky in der 'Weltbühne‘ eindringlich vor diesem Gesetz. „Die herrschende Klasse schmiedet sich eine Kette, die ein neues Patent darstellt: Man kann sie beliebig verlängern, verkürzen, verstärken — wie man sie braucht. Schlagt diese Kette in Stücke. Nieder mit der Sicherungsverwahrung!“

Tucholsky zielte mit seiner Kritik auf Richter und Gerichtsgutachter, die mit ihren willkürlichen Urteilen und Diagnosen aus einem harmlosen Kleinkriminellen einen „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ machten. Wer in irgendeiner Form von der Norm abwich, den degradierten Psychiater zu einem „gemeingefährlichen Psychopathen“. Richter konstruierten dann aus ihm einen „erheblich vermindert zurechnungsfähigen Gewohnheitsverbrecher“, der, falls er „weder heilbar noch pflegebedürftig“ war, in Strafquarantäne genommen werden mußte. Es reichten oftmals Bagatelldelikte aus, um einen „Psychopathen“ (einen an seiner Seele leidenden Menschen) etliche Jahre verschwinden zu lassen.

1969 verabschiedete sich die Justiz von den angeblich wissenschaftlichen Kennzeichnungen „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“, „kriminelle Geisteskranke“, „arbeitsscheue Berufsverbrecher“ und ersetzte sie durch den politisch unbelasteten Begriff „Hangtäter“. 1975, nach der zweiten Reform des Gesetzes gegen „freiheitsunfähige Menschen“, verschärfte die Justiz dann die Voraussetzungen zur Anordnung der SV (§66 StGB) erheblich. Seitdem sind in der SV keine „Opferstock-Diebe“ und „Zechpreller“ mehr zu finden. Ein Ende der Sicherungsverwahrung ist jedoch vorerst nicht in Sicht. Klaus Koepsel: „Der Trend in den Industrienationen geht dahin, daß man sagt, gefährliche Leute müssen verschwinden. Somit sehe ich für die Abschaffung der SV keine Chance. Außer, man verlängert die Haftstrafen und schafft damit das Etikett SV endgültig ab.“

Über 50 Prozent Sexualstraftäter

In Werl setzt sich das Klientel der „Schutzhäftlinge“ zu über 50 Prozent aus nicht therapiewilligen und therapieresistenten Sexualstraftätern zusammen. Den größten Teil dieser Gruppe bilden pädosadistische Straftäter, die ihre Opfer auf übelste Weise mißbraucht haben. In der Knasthierarchie stehen diese Gefangenen auf der untersten Stufe. Einige haben das zweite und dritte Mal SV und eine Hafterfahrung von über dreißig Jahren. Dies zeigt eindeutig die Grenzen des Behandlungsvollzugs, denn Gutachter entscheiden, welche Maßregel für einen fixierten Triebtäter adäquat wäre; Sicherungsverwahrung oder die Einweisung in eine forensische Klinik. „Wir hatten einen Gefangenen, der ein zweijähriges Mädchen notzüchtigte und töten wollte“, sagt Klaus Koepsel. „Er verbüßt hier mehrere Jahre Haft und befindet sich jetzt in einer forensischen Klinik. Wäre der Häftling an einen anderen Gutachter geraten, hätte er vielleicht die SV antreten müssen.“

Klaus B. aus Monschau in der Eifel, 46 Jahre ist, ist „fast blind“. Der Preis für etwa zwanzig Jahre Haft, davon sechseinhalb Jahre in SV. Klaus B. gehört zur Verwahrtengruppe der Vermögensstraftäter wie Bankräuber und pseudologische Betrüger. Seine Delikte sind: „schwere Brandstiftung“ und „besonders schwerer Diebstahl“. Zehn Jahre mußte er warten, bis er am 24.September 1991 seine erste Ausführung in Begleitung eines Vollzugsbeamten bekam.

Bis auf wenige Sonderrechte, die Verwahrte gegenüber Strafhäftlingen haben, unterscheiden sich beide Vollzugsarten voneinander nicht erheblich. Klaus B. darf private Kleidung tragen. Er kann mindestens zwei Stunden im Monat Besuch empfangen. In seinem Haftraum hängen Gardinen. Ihm wird gestattet, mehr Pakete als ein Strafgefangener anzunehmen. An arbeitsfreien Tagen kann er sich mindestens zwei Stunden auf dem Anstaltsgelände aufhalten. Diese Privilegien können allerdings von der Anstaltsleitung jederzeit wieder aufgehoben werden, wenn sie die „Sicherheit und Ordnung“ der Anstalt gefährden. So wird aus dem Verwahrten schnell wieder ein Strafgefangener, die Übergänge sind fließend.

Die Zelle von Klaus B. wird morgens um sechs Uhr aufgeschlossen, er bekommt sein Frühstück gebracht. Gegen sieben Uhr rückt er zur Arbeit aus. Dazu ist jeder Häftling gesetzlich verpflichtet. Als Facharbeiter kann Klaus B. maximal 10,02 D-Mark pro Tag verdienen — Brutto. Abgezogen werden ihm von diesem Gehalt 2,15 Prozent Arbeitslosenversicherung. Krankenversichert ist er allerdings nicht. Sollte Klaus B. einmal krank werden, steht ihm ein Taschengeld von mindestens dreißig D-Mark im Monat zu. Gegen zwölf Uhr ißt Klaus B. auf seiner Zelle zu Mittag. Nach der Pause geht er wieder an seinen Arbeitsplatz. Um 16 Uhr ist Feierabend. Bis zum Einschluß um 21.30 Uhr kann sich Klaus B. „frei“ in den Korridoren der Verwahrtenwohngruppen bewegen. Sein Hobby ist die Aquaristik, daneben betätigt er sich als Co-Trainer der Handballer. Und er liest Fachliteratur über Computertechnik.

Im „Toyotahaus“ (Knastjargon)“ ist das Klima angespannt. Einige sind nach langer Haft knastmüde und am äußersten Punkt ihrer seelischen und körperlichen Belastbarkeit angelangt. Häufig kennt Klaus B. nur die Vornamen der Zellennachbarn, über begangene Straftaten bewahrt man Stillschweigen. Wer auf engstem Raum in einer Zwangsgemeinschaft aus kontaktgestörten Einzelgängern leben muß, der rückt nicht noch enger zusammen, der erhält sich seine Freiheit in der Anonymität. Der Körper ist inhaftiert und im weitesten Sinne fremdbestimmt. Die verbleibenden Freiräume existieren ausschließlich im Kopf, und darin möchte sich Klaus B. nicht herumwühlen lassen.

Von 46 Verwahrten sind zwei verheiratet. Bis auf wenige, die von der „Chance e.V.“ Gelsenkirchen, vom „Sozialdienst katholischer Männer“ Bochum und anderen karitativen Einrichtungen betreut werden, fehlt den meisten jeglicher sozialer Kontakt.

Einer von ihnen sitzt seit 1952 mit kurzen Unterbrechungen von zwei Monaten im Gefängnis. In diesen zwei Monaten hat er zweimal versucht, ein Tötungsdelikt zu begehen. Jetzt wird er auf seine Entlassung vorbereitet. Er wäre der zweiundvierzigste, den die JVA Werl in den letzten drei Jahren nach einer durchschnittlichen Verwahrdauer von 3,9 Jahren entließe.

Gebrauch der Freiheit trainieren

Sozialarbeiter Günter Korf (37), „Quartiermeister“ der Verwahrten, hat seit 1987 Kontakte zu 49 Wohnheimen in Nordrhein-Westfalen aufgebaut, die bereit sind, entlassene „Hangtäter“ aufzunehmen. „Es hat sich gezeigt, daß bei einer sozialen Integration die meisten Verwahrten nicht mehr so stark rückfallgefährdet sind.“ Zu Günter Korfs Aufgaben gehört es, mit diesen Leuten den Gebrauch der Freiheit zu trainieren. Dieses soziale Training erweist sich jedoch als äußerst schwierig, weil sie nicht selten kontaktscheu sind und sich daran gewöhnt haben, fast ausschließlich mit Amtspersonen umzugehen. „Wenn ich die Leute ausführe, haben sie schweißnasse Hände. Sie müssen draußen so viele Eindrücke wahrnehmen, daß sie einfach überfordert sind“, sagt Günter Korf. Entläßt die Justiz aus der Sicherungsverwahrung lebenstüchtige und „ungefährliche“ Bürger? Seine Antwort fällt zuversichtlich aus. „Sie sind dann gefährlich“, sagt Klaus Koepsel, „wenn wir sie lebensuntüchtig entlassen würden. Wir züchten nicht den guten Menschen, aber der humane Vollzug kann exzessive Straftaten weitestgehend verhindern.“