Die Intertazionale der Weltbürger

Eine kleine Tausenddankrede an die KollegInnen ohne deutschen Paß, die die Samstagsausgabe produzierten/ Ein Wärmestrom floß durch die taz/ Chaos mit tanzenden Sternchen und trotzdem kaum Verspätung beim Redaktionsschluß  ■ Aus Berlin Ute Scheub

Kollegen und Kolleginnen, Produzenten unserer Samstagszeitung, Nichtbesitzer deutscher Plastikausweise, kämpferische Vertreter der Intertazionale, ihr wart wunderbar. Das Chaos mit euch war das schönste in der taz seit langen Zeiten, es hat einen Wärmestrom erzeugt, über dem die Sternchen tanzten. Die Routine unseres eingespielten Produktionsablaufs, sie war dahin. Nichts stimmte mehr, alle liefen durcheinander, schreiend, rufend, lachend, gestikulierend, der Wärmestrom übertrat die bestehenden Grenzen, riß alle mit. Und dennoch ist eine Zeitung dabei herausgekommen, und sogar pünktlich. „Unsere normalen Redakteure sind viel schlimmer!“, konstatierten die Produktionskontrolleurinnen am Schluß, als schon die Sektkorken knallten.

Der Sekt floß, weil ein für beide Seiten beglückendes Experiment gelungen war. Wir hatten, wenigstens für einen Tag, die Redaktion in eure Hände gelegt, weil wir wissen wollten und ihr am besten wißt, wie man sich in diesem kalt gewordenen Deutschland als Ausländer und Ausländerin fühlt. Ihr habt uns Antworten formuliert über das Anderssein und die Fremde, über die Felsen in den Augen der Deutschen, über das Warten in der Ausländerbehörde.

Viele von euch fühlen sich in Berlin schon bedroht

Vieles allerdings, was ihr in dreiwöchiger Vorbereitungszeit geschrieben, getextet, gedichtet habt, fiel dann doch der platzfressenden Bestie Aktualität zum Opfer. Und so erfuhren wir nur mündlich, hinterher beim gemeinsamen Feiern, wie viele neue Grenzen euch gesetzt wurden, seit die Grenze zwischen den beiden Deutschländern fiel. Wie bedroht ihr euch in diesem — im Vergleich zu Hoyerswerda ja noch geradezu paradiesischen — Multikultitumultiberlin schon fühlt. Wie viele eurer Freunde bereits angegriffen oder niedergestochen wurden. Wie ihr selbst in der U-Bahn-Station darauf achtet, nicht zu nahe an der Bahnsteigkante zu stehen. Und wie oft ihr in letzter Zeit ans Auswandern gedacht habt. Aber wohin? In Europa, diesem Möchtegern-Synonym für jahrtausendealte humanistische Kultur, diesem Totschlagsargument arroganter weißer Männer, in Europa seid ihr fast nirgendwo mehr richtig sicher. Seit Hunderten von Jahren entwickelte sich die Alchimie der europäischen Kultur auf der Basis des besseren Schießpulvers und der in euren Herkunftsfländern geraubten Gold- und Bodenschätze, und nun blättert, mal wieder, der Lack ab von der Pulverbüchse.

War es deshalb, daß der Israeli Igal Avidan auf der Konferenz der Nachrichtenredaktion forderte, Europa solle in der taz der Weltbürger „mehr nach hinten rücken“? War es deshalb, daß der rumäniendeutsche Schriftsteller William Totok gleich darauf verlangte, die Nato-Tagung müsse auf die Titelseite, „das ist heute das Wichtigste“? Die Meinungen darüber gingen aber weit auseinander, und aus dem Bleistück Nato wurde im Wirbel des Tages der prägnanteste Kommentar, der je in der taz gestanden hat: „Die Nato tagte — na und?“ Ein ähnliches Schicksal erlitt auch die 150zeilige Klage eines dänischen Journalisten, zur Pressekonferenz der deutschen Nato-Vertreter in Rom keinen Zutritt erlangt zu haben. Kurz vor Redaktionsschluß und nach heftigen Debatten zwischen In- und Auslandsredaktion flog er aus dem Blatt, anderes erschien euch wichtiger.

Auch die ethnologischen Beschreibungen deutscher Verhaltensweisen, die die Bulgarin Julianna G. Sokalova und andere notierten, fanden leider kein Plätzchen mehr. „Die Deutschen tauschen, wo und zu welchem Anlaß auch immer, Lippenküsse aus“, hatte die Bulgarin beobachtet. „Das machen zwar auch die jungen Bulgaren so. Doch die Deutschen pflegen dabei so viel Lärm zu machen, daß es ein bißchen unbefriedigend sein kann, wenn man Zeuge dieser Küsse wird und seinen Liebhaber nicht dabei hat. Deshalb sollte man hier immer ein Butterbrot zum Trost greifbar haben.“

Shicha Liu indes hatte nichts in der Hand, um die Autoren und Autorinnen der herausgefallenen Texte zu trösten: „Wir hatten einfach zu wenig Platz“, befand er am Ende. Er, Dozent der Elektrotechnik, und seine Freundin Yan Shi, promovierte Werkstoffkundlerin, waren die heimlichen Helden des Tages. Blutige Laien im journalistischen Geschäft, koordinierten sie als sogenannte CvDs — Chefs vom Dienst oder auch Chinesen vom Dienst —, die Berichterstattung im überregionalen Teil und im Berliner Lokalteil, als hätten sie nie etwas anderes getan. In einem Redaktionsraum von vielleicht vier mal zehn Metern, in dem die Telefone klingelten und die Agenturtickermeldungen herumflatterten, in dem mehrere Rundfunkteams gleichzeitig ihre Mikrofone fast in eure Münder steckten, in dem ständig mehr als zwanzig Leute herumwuselten — „wie schön, hier kann man nicht umfallen“, sagte unser schweizer Layouter —, in diesem ganzen Chaos behielt Liu den Überblick. Klaus Hillebrand, Chef vom Dienst an normalen taz-Tagen, half ihm zwar beim Bedienen des Redaktionscomputers und beim Kürzen der Texte, doch aus den inhaltlichen Entscheidungen hielt er sich wie die anderen tazler strikt heraus.

Neben ihnen konzipierte der aus dem Iran ins deutsche Exil gegangene Schriftsteller Bahman Nirumand mit technischer Unterstützung von tazlerin Annett Jensen die Titelseite. Vor seinem Bildschirm staute sich bei Redaktionsschluß alles, was vorher durch die Etagen hetzte und wetzte: zwei Fotografen, ein Fernsehteam, sieben oder acht Ausländer und ebenso viele deutsche Hilfskräfte inklusive des zum Technoknecht degradierten taz-Redaktionsleiters.

Sie alle wollten die Geburt der Schlagzeile aus dem tanzenden Chaos miterleben. „Unser Land, unsere Sprache“, schlug Bahman Nirumand schließlich vor, und sieben oder neun versammelte Kulturkreise freuten sich am ironischen Hintersinn. „Ist das gut?“, fragte Nirumand in die Runde. „Ja!“ „Also los, weg mit dem Text!“ Und mit einem „Hurra!“, so laut, daß die Leute aus dem Stockwerk zusammenliefen und fragten, wer hier welches Tor geschossen habe, wurde der Aufmacher ins Layout geschickt.

Die taz-Layouterinnen dort schauten sich an. „Schade“, seufzte eine Ostberlinerin, „daß jetzt schon Ende ist. Die sollten besser jeden Tag kommen, keine Spur von deutscher Muffeligkeit!“ Ja, schade wär's, jammerschade, liebe Kolleginnen und Kollegen Weltbürger und Intertazionalisten, wenn es bei diesem einzigen Tag bliebe, wenn wir nicht eine Form finden könnten, um dieses Experiment fortzusetzen: die taz in bester multikultureller Gesellschaft.