Prognosen für '92 klaffen auseinander

■ DGB-Chef und Arbeitgeberpräsident sehen die Zukunft in Ostdeutschland höchst unterschiedlich

Berlin (taz) — Die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland wird von Gewerkschaften und Arbeitgebern völlig unterschiedlich eingeschätzt.

Nachdem Arbeitsamtspräsident Franke in der letzten Woche für Jahresende einen weiteren drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den fünf neuen Ländern vorausgesagt hatte, überwiegen bei den Gewerkschaften wieder die pessimistischen Töne, während die Arbeitgeber für 1992 einen Investitionsrekord und damit den sehnlichst erwarteten Aufschwung ankündigten.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Heinz Werner Meyer, warf am Wochenende der Bundesregierung vor, einer industriellen Verödung der neuen Länder weitgehend tatlos zuzusehen. Mit dem derzeitigen Kurs, der nach wie vor der Privatisierung vor der Sanierung den Vorzug gebe, sei weder eine soziale Finanzierung der deutschen Einheit noch eine Sanierung des ostdeutschen Industriestandortes erreichbar. Meyer setzte sich dafür ein, den Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer über den 1. Juli 1992 hinaus zu verlängern. „Solidarität, die auf ein Jahr beschränkt wird, wird der Aufgabe nicht gerecht, vor der wir in Deutschland stehen“, meinte der DGB-Chef — wohl wissend, daß der Zuschlag bei den Gewerkschaftsmitgliedern keineswegs populär ist. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer werde jedoch die Solidarität auf die Schultern derjenigen verlagert, die am wenisten erübrigen könnten.

Allein in Sachsen sieht der sächsische DGB-Vorsitzende Hanjo Lucassen für Jahresende rund 150.000 Entlassungen voraus, wenn weiterhin nach der Devise „Schließung vor Sanierung“ verfahren wird. Er sieht mittelfristig die Gefahr, daß von den derzeit 2,2 Millionen Beschäfitgten in Sachsen nahezu jeder zweite seinen Arbeitsplatz verliert. Er forderte eine Verlängerung der Ende des Jahres auslaufenden Kurzarbeiter-Regelung und die Bildung einer Holding mit sanierungsfähigen Treuhandbetrieben. Insgesamt sei mehr Zeit für die Sanierung der Betriebe vonöten. Das sei nicht in zwei Jahren, sondern bestenfalls in fünf bis sechs Jahren zu schaffen.

Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann dagegen sieht für das nächste Jahr das Ende der Krise voraus. Mit Investitionen von rund 35 Milliarden Mark werde eine Rekordhöhe erreicht. Das sei eine Aufstockung gegenüber diesem Jahr um rund zehn Milliarden. Eine Investitionsquote von rund 30 Prozent habe es in der Bundesrepublik nur in den 50 Jahren gegeben. Murmann erwartet für das nächste Jahr auch eine Zunahme der Beschäftigung. Er appellierte an die Unternehmer, mehr Teilzeitarbeit anzubieten, um den Problemen am Arbeitsmarkt zu begegnen. Darin sehe er auch einen Beitrag zum Abbau sozialer Spannungen. marke