Eine Frau, die Mao angriff

Wang Rongfen wurde zur Konterrevolutionärin, als vor 25 Jahren Mao Zedong die „Große Proletarische Kulturrevolution“ initiierte, und kam für 13 Jahre ins Gefängnis. Als 1989 Panzer die Demokratiebewegung niederwalzten, floh sie ins deutsche Exil  ■ VON ELKE WANDEL

Schüchtern hat sie auf der äußersten Sesselkante Platz genommen, beinahe devot. In ihrem selbstgeschneiderten grauen Kostüm und mit ihrer altmodischen Hornbrille wirkt sie bieder und unbedarft: Wang Rongfen, Mitte 40, Chinesin, wohnt zur Zeit in Deutschland.

Doch ihre Haltung ist nur äußerlich gebeugt. In 13 Jahren Haft hat sie sich einen aufrechten Gang zugelegt. Selbst die Folter hat ihr das Rückgrat nicht gebrochen. Doch es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt.

Die Vorstellung, irgendjemand könnte diese Frau als Ausländerin beleidigen, als Flüchtling verhöhnen, sie gar handfest attackieren, ja, ihr gegenüber auch nur andeutungsweise äußern, sie sei hier bei uns unerwünscht, weil sie ein asiatisches Gesicht hat, ist mir unerträglich. Ich kenne ihre Geschichte, ihr Schicksal, die Umstände, unter denen sie zu uns kam und Zuflucht suchte.

Kaum hörbar beginnt Wang Rongfen zu sprechen, doch nach ein paar undeutlichen Sätzen — zwischen fast geschlossenen Zähnen hervorgepreßt — hat sie ihre Konzentration gefunden. Sie taucht in die eigene Lebensgeschichte ein und eröffnet damit ein dramatisches Kapitel chinesischer Vergangenheitsbewältigung:

„Wer Mao angreift, greift die Partei an. — Wer die Partei angreift, greift die Arbeiterklasse an. — Wer die Arbeiterklasse angreift, ist ein Konterrevolutionär!“ Eine solche Konterrevolutionärin war sie, die 21jährige Germanistik-Studentin aus Peking. Sie hatte es gewagt, den Großen Vorsitzenden persönlich zu kritisieren, die Maxime eines Halbgottes in Frage zu stellen. Das ist jetzt ziemlich genau 25 Jahre her. Zur Strafe für diese Anmaßung ist sie für 13 Jahre hinter Gittern verschwunden.

Wang Rongfen war als Musterschülerin mit 16 Jahren in den kommunistischen Jugendverband aufgenommen worden — eine große Ehre, um die sich viele junge Leute damals vergeblich bemühten. Sie teilte die Ideale der Partei von einem neuen, einem gerechteren China, sah sich als begeisterte Pionierin des Kommunismus maoistischer Provenienz. Mao war für sie die Rote Sonne, die personifizierte Hoffnung.

Als jedoch im Jahre 1966 der Sturm der sogenannten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ über die Volksrepublik China hinwegfegte, begann Wang am Unfehlbarkeitsdogma der Partei zu zweifeln. Was anfangs wie ein gigantisches Reformvorhaben ausgesehen haben mag, das mit Korruption, Bürokratie und bürgerlicher Dekadenz aufzuräumen vorgab, entpuppte sich sehr bald als gewalttätige Säuberungsaktion. Mit dem salonfähigen Begriff „Klassenkampf“ gut getarnt, wurden politisch mißliebige Zeitgenossen, vor allem Intellektuelle, systematisch verfolgt, verschleppt, mißhandelt, ermordet, in den Selbstmord getrieben.

Der Zweifel keimt

Wang Rongfen hatte miterlebt, wie die Rotgardisten ihren mit Nägeln gespickten Gürtel abnahmen und andere Menschen totschlugen, nur weil sie nicht bereit waren, Selbstkritik zu üben. Sie hatte gesehen, wie Rotgardistinnen auf der Straße standen und allen Frauen, die sich nicht von ihren langen Zöpfen hatten trennen wollen, den revolutionären Einheitsschnitt verpaßten; wie sie jungen Mädchen auf offener Straße die Hosen aufschlitzten, wenn sie meinten, ihre Beinkleider ließen zu viel Körperkonturen erkennen. Gefragt waren breit geschnittene grüne Militäruniformen und Ballonmützen. Wang wußte, daß sich der Hausarzt ihrer Familie erhängt hatte, weil die Roten Garden ihn wegen seiner französischen Ehefrau grausam mißhandelt hatten. Sie hatte mit angesehen, wie eine hochschwangere Frau kahl geschoren wurde, weil sie die Tochter eines ehemaligen Großgrundbesitzers war. Sie hat die fanatisierten Jugendlichen beobachtet, wie sie gröhlend auf den Friedhof im Universitätsviertel gezogen waren, um die Knochen des berühmten Malers Qi Baishi auszugraben. Ein angeblich revolutionärer Akt, durch den der elitäre Charakter dieser sogenannten bürgerlich-dekadenten Kunstrichtung angeprangert werden sollte.

Wang Rongfen stammt aus einfachen Verhältnissen, offenbar nicht einfach genug — nach kulturrevolutionären Maßstäben. Und so blieb auch ihre Familie nicht ungeschoren. Der Vater hatte in den vierziger Jahren ein Obstgeschäft besessen. Wang war also nach damaliger politischer Terminologie eine Kapitalistentochter. Daß der Vater bereits gestorben war, als sie und ihr zwei Jahre älterer Bruder noch Kleinkinder waren, und die Mutter die dreiköpfige Familie mehr schlecht als recht allein durchbringen mußte, änderte nichts an der Klassifizierung. Auch daß das Geschäft bereits 1956 enteignet und die Mutter darin seither lediglich als staatliche Angestellte mit 13 Yuan (etwa 20 DM) Monatslohn schuftete, tat ebensowenig zur Sache.

Die sogenannte Kapitalistentochter hatte also schon frühzeitig das äußerst knapp bemessene Haushaltsbudget aufbessern müssen. Schon als ganz junges Mädchen war es ihre Aufgabe, für den älteren Bruder die Hosen zu nähen. War der herausgewachsen, übernahm sie die abgetragenen Kleidungsstücke, statt für sich selbst etwas eigenes zu nähen. Wie sehr hatte sie sich geschämt, Hosen zu tragen, die vorne einen Schlitz hatten. — Noch heute errötet Wang Rongfen, wenn sie sich daran erinnert.

Trotz der ärmlichen Verhältnisse, in denen Wang großgeworden war, mußte die Familie 1966, also kurz nach Beginn der Kulturrevolution, drei Hausdurchsuchungen in den eigenen vier Wänden über sich ergehen lassen. Dabei raubten und zerstörten die Rotgardisten alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Am 18.August 1966 beim Empfang der Rotgardisten auf dem Platz des Himmlischen Friedens durch Mao Zedong und Lin Biao ist Wang dann auch dabei, und sie ist schockiert über die totalitäre, aggressive Diktion. Als Germanistik-Studentin hat sie die Reden Adolf Hitlers vom Tonband gehört, und zu ihrem eigenen Entsetzen findet sie deutliche Parallelen zwischen der Wortwahl und dem Gebaren der großen Führer. Wang Rongfen fühlt sich betrogen, für sie ist dies das Ende einer Utopie.

Welche Konsequenzen sie aus dieser Erkenntnis zog, will ich wissen und meine damit ihren Selbstmordversuch. Wang versteht meinen Hinweis sofort, aber sie schweigt. Ihre Finger verknoten sich. Sie ist bereit, mit mir über alle politischen Fragen zu reden, mir von ihrer Haft zu erzählen, nur darüber will und kann sie nicht sprechen. Noch heute schämt sie sich für diesen verzweifelten Schritt. Sie hat Angst, ein schlechtes Vorbild zu sein für die Jugendlichen, die heute in China in einer vergleichbar ausweglosen Lage sind. Beklommenes Schweigen — auf beiden Seiten. Dann greift Wang entschlossen nach ihrer kunstledernen Handtasche. Sie zieht ein Schriftstück hervor, eine biographische Skizze, vor Jahren von einer chinesischen Journalistin verfaßt. Und mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldet, reicht sie mir das Papier. Darin könne ich alles nachlesen, wenn mich Details interessieren. Sie selbst will sich diese Zeit alllerdings nicht noch einmal in Erinnerung rufen. Sie will vergessen, was damals geschah.

Bruch mit dem bisherigen Leben

Spätestens im September 1966 wird Wang klar, daß sie unter diesen politischen Verhältnissen so nicht weiterleben kann. Und sie faßt den Entschluß, sich das Leben zu nehmen. Gleichzeitig will sie aber mit ihrem Freitod ein Zeichen setzen, will aufbegehren gegen die Gewalt, gegen die Verlogenheit, gegen das Unrecht, das Hunderttausenden von Menschen damals in China widerfährt. Sie beginnt Briefe zu schreiben, zuerst an die Leitung ihrer Hochschule, dann an verschiedene Parteisekretäre, hohe Kader und schließlich — an den großen Vorsitzenden persönlich:

Sehr geehrter Vorsitzender Mao Zedong,

denken Sie bitte im Namen eines Parteimitgliedes daran, was Sie jetzt tun. Denken Sie bitte im Namen der Partei daran, was es bedeutet, was jetzt geschieht. Denken Sie bitte im Namen des chinesischen Volkes daran, wohin Sie China führen werden. Die große Kulturrevolution ist keine Massenbewegung, sondern eine solche, bei der eine Person mit einem Gewehr in der Hand die Massen bewegt. Ich erkläre offiziell, daß ich heute aus dem kommunistischen Jugendverband Chinas austrete.

Es grüßt eine Studentin aus der Klasse IVa des Fachbereichs Germanistik der Osteuropäischen Fakultät der Fremdsprachen-Universität Peking

Wang Rongfen

24.September 1966

Diese nach unserem Verständnis eher moderaten Formulierungen sind im Kontext sino-kommunistischer Moral ein Affront erster Güte. Der Partei beziehungsweise dem Jugendverband aus eigenem Entschluß den Rücken zu kehren, ist ein unverzeihliches Sakrileg. Die Partei verläßt nur, wer im Rahmen einer Strafmaßnahme ausgeschlossen wird. Ansonsten ist der bedingungslose Kotau eine Selbstverständlichkeit. Wer diesen Kotau verweigert, muß mit Folter und Haft rechnen. Wang weiß, worauf sie sich einläßt. Sie bringt einige der Briefe zur Post, steckt sich die übrigen in die Tasche. Dann geht sie noch einmal zum Platz des Himmlischen Friedens, dem sie wie einem heiligen Ort ein letztes Mal Lebewohl sagen will. Hier war die Volksrepublik 1949 von Mao Zedong ausgerufen worden, ein Land, dem sie ihr Leben geweiht hat, und für das sie nun sterben will. Wehmutsvoll schaut sie auf den riesigen Obelisken, den Phallus im Zentrum des Platzes, der den Märtyrern des chinesisches Volkes gewidmet ist — ihren Vorbildern. An diesem Obelisken übrigens sollte dann im Juni 1989 die studentische Demokratiebewegung zusammengeschossen werden.

In der Wangfujing, der großen Einkaufsstraße Pekings, besorgt sich Wang in einer Apotheke drei Flaschen DDT und macht sich auf den Weg zur sowjetischen Botschaft. Unterdes schüttet sie das Gift in sich hinein und bricht schließlich vor dem Botschaftsgebäude bewußtlos zusammen. Sie hatte gehofft, die Sowjets würden sie finden und in aller Welt die Schlagzeile verbreiten: „Junge Frau nimmt sich aus Protest gegen Maos Politik das Leben.“ Aber ihre Rechnung geht nicht auf. Gefunden wird sie nämlich von chinesischen Sicherheitskräften, die sie erst einmal ins Krankenhaus für Staatssicherheit abtransportieren. Wang Rongfen kommt durch. Ihre Briefe werden gefunden, und bevor sie sich noch einigermaßen körperlich erholt hat, wird sie Tag und Nacht verhört. Aber sie wehrt sich, nicht nur gegen das Verhör, auch gegen ihre unfreiwillige Rückkehr ins Leben. Sie reißt sich die Kanüle aus der Vene und zerschlägt den gläsernen Tropf. Wenige Tage später wird sie ins Gefängnis gebracht. Heute erinnert sie sich: „Von da an wollte ich nicht mehr sterben.“

Wang Rongfen wird innerhalb Pekings mehrmals verlegt. Aber schon bald drohen die Gefängnisse in den Großstädten aus allen Nähten zu platzen, und außerdem gelten die Insassen als erhöhtes politisches Sicherheitsrisiko. So werden viele Gefangene in entlegene Provinznester verbracht. Zusammen mit hundert anderen Pekingern wird auch Wang aus der Hauptstadt in die Provinz Shaanxi verschleppt. Viele dieser hundert Häftlinge sterben an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen, einige Glückliche werden entlassen. — „Schließlich bin ich allein.“

Sterben — oder eine andere Person werden

Eines Tages steckt ihr ein Mithäftling einen Kassiber zu, in dem er sie um Hilfe bittet. Die unerlaubte Kontaktaufnahme wird entdeckt, Wang soll das Schriftstück herausgeben. Sie steckt den Brief in den Mund und versucht ihn herunterzuwürgen. Zwei Aufseher versuchen dies jedoch zu verhindern, indem sie ihr die Kehle zudrücken. Fast erstickt sie. Als einer der Bauernsoldaten versucht, ihre Zähne mit einer Zange zu öffnen, verschluckt sie den Kassiber bei diesem Gewaltakt. Als Wang nun noch immer nicht bereit ist, den Inhalt des Briefs preiszugeben, werden ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt:

„Die beiden Metallfesseln sind enger als die Handgelenke — und sie beißen ins Fleisch. Innerhalb von 30 Minuten schwellen die Arme an, das drückt aufs Herz. Ich konnte dann auch nicht mehr richtig atmen, mich nicht richtig bewegen. Das war sehr qualvoll. Man wollte, daß ich innerhalb von 30 Minuten den Inhalt des Briefs verrate. Ich habe die Fesseln sechs Monate getragen — bis mich ein Gefängnisarzt untersuchte und sagte, die Frau muß sterben.“

Sechs Monate lang hat Wang Rongfen so auf dem nackten Boden ihrer Zelle gelegen, sechs Monate lang das ihr hingeworfene Stück Maisfladen vom Boden gefressen — wie ein Tier. Sechs Monate lang hat sie sich nicht waschen können, sich nicht kratzen, wenn sie von Läusen geplagt wurde, weder Urin noch Kot noch ihr Menstruationsblut wegwischen können. Als die Gefängnisleitung schließlich ihre Entfesselung anordnet, sind die Metallringe bereits mit ihrem Fleisch fest verwachsen. Mit Gewalt werden die Fesseln von den Handgelenken gerissen; es klebt ihr Fleisch dran, ihr Blut. Diese gespenstische Szene spielt sich im Winter in einem kleinen Gefängnisbüro ab. Ein Wärter wirft die Metallringe in den Ofen; es riecht nach Menschenfleisch. — Wang Rongfen hat der Folter widerstanden, hat der Staatsgewalt den Kotau verweigert. Ausgerechnt diese sechs Monate unter der Folter bezeichnet sie als die wertvollsten ihrer Haft: „Angesichts dieser Qual war ich gezwungen, die Schwierigkeiten zu überwinden. In so einer Situation wird man eine total andere Person. Sonst muß man verrückt werden oder sterben. Ich habe überlebt, bin auch nicht verrückt geworden. Gerade in dieser Zeit habe ich über vieles nachgedacht. Und ich habe mich selbst nicht verraten, nicht ergeben.“

Jemand hatte Wang den zweiten Band des Kapitals von Karl Marx in die Zelle geschmuggelt. Vielleicht war das ihre Rettung. Vielleicht hat die regelmäßige Lektüre sie vor dem Verrücktwerden bewahrt. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen, auf dem Boden liegend, hat sie die Worte in sich eingesogen —, mit der Zunge geblättert, mit der Wange die Seiten, die immer wieder umzuschlagen drohten, festgedrückt. Und sie hat mit dieser Lektüre gegen die Gefängnisstatuten verstoßen. Erlaubt waren nämlich in Chinas Zellen zur Zeit der Kulturrevoltuion nur die Gesammelten Werke Mao Zedongs.

Während ihrer gesamten Inhaftierung hat Wang kein Gerichtsverfahren bekommen. Erst nach zehn langen Jahren Haft wird sie endlich verurteilt — und zwar von einem Bauernkomitee zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Der Bauer, der das Urteil verliest, hat Mühe, die Schriftzeichen zu entziffern, und Wang kann sich angesichts der unglaublichen grammatischen Fehler, die er beim Vortragen des Textes macht, das Lachen nur mit Mühe verkneifen. Und sie ist erleichtert; zum einen, weil sie bis zum Schluß mit der Todesstrafe gerechnet hat, zuum anderen, weil sie als rechtskräftig Verurteilte endlich arbeiten darf. Und die langen Jahre, in denen das Auswendiglernen der Gesammelten Mao-Schriften die einzige Abwechslung von der Leere des Nichtstuns ist, bekommen nun einen neuen Sinn. Zwar steckt man sie in eine Chemiefabrik, in der sie ohne jegliche Schutzvorkehrungen mit hochgiftigen Materialien in Berührung kommt, aber die Haft ist nun doch erträglicher geworden.

Als nach dem Tod Mao Zedongs und dem Sturz der sogenannten Viererbande Deng Xiaoping an die Macht kommt, wird in China eine neue Ära eingeleutet: Mit der Öffnungspolitik und dem „Programm der Vier Modernisierungen“ wird eine einschneidende Wende vollzogen. Deng setzt sich vor allem auch für die Opfer der Kulturrevolution ein, und zwar vor allem für die Intellektuellen. So kommt Wang Rongfen im Jahre 1979 endlich frei. Sie wird rehabilitiert und darf an die Hochschule zurückkehren. Wenig später hat sie Gelegenheit, zu einem Studienaufenthalt in die Bundesrepublik zu reisen. Nach ihrer Rückkehr bekommt sie eine Stelle als Dozentin für Soziologie an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und gilt bald als Kapazität im Bereich der Max-Weber-Rezeption, vor allem auch als seine bedeutendste Übersetzerin. Wang Rongfen ist jedoch schon sehr bald klar, daß die Reformen im wirtschaftlichen Bereich nicht ausreichen werden, um die chinesische Gesellschaft umfassend zu reformieren. Eine politische Liberalisierung bleibt aus, und Wang verliert ein zweites Mal ihre Illusionen. Sie leidet unter ihrer Selbstzensur und denkt oft an die Zeit ihrer Inhaftierung, als sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen ihre Gedanken ausgesprochen hatte. Fast wehmütig ruft sie sich die eigene Zivilcourage und die ihrer Mitgefangenen in Erinnerung: „Das Gefängnis damals war eine ganz andere Welt. Während der Kulturrevolution war das wahrscheinlich die einzige saubere Ecke in China.“

Als am 4.Juni 1989 der gleiche Deng Xiaoping, durch den Wang freigekommen war, die Demokratiebewegung unter den Panzern der sogenannten Volksbefreiungsarmee begraben läßt, muß Wang fliehen. Die Dozenten und Dozentinnen der Akademie, an der sie lehrte, gelten als Rädelsführer der Bewegung. Heute lebt Wang zusammen mit ihrer Tochter im deutschen Exil. Noch hat sie keinen Antrag auf Asyl gestellt. Und es ist auch fraglich, ob sie damit durchkäme...