Drifter, Hasardeure, Stadtstreicher

■ Eine Wanderaustellung des Werkbund-Archivs über die »Situationisten«-Bewegung

Um dem düsteren November zu entkommen, hat das Werkbund-Archiv zwei Schauplätze inszeniert, auf denen der Asphaltdschungel zum Schillern gebracht werden soll. Die Ausstellung mit dem amphibischen Titel Nilpferd des Höllischen Urwalds — Spuren in eine unbekannte Stadt zieht eine Linie von den Situationisten der 50er Jahre über die Münchner Malergruppe Spur bis zur Kommune I der 60er Jahre und den Hausbesetzern der vermaledeiten 80er Jahre.

Bei ansonsten gravierenden Unterschieden ist all diesen Klüngeln und dem Werkbund-Archiv selbst gemeinsam, daß den angeblich in Langeweile erstarrten Lebensverhältnissen in der »dröhnenden Großstadtmaschinerie« die Flötentöne beigebracht werden sollen; daß die Trennung zwischen Kunst und Alltag, Ästhetik und Politik, Subjektivität und »Gemeinsamismus« verschwinden muß. Die vor 34 Jahren in Paris von einigen Malern und Revoluzzern gegründeten Situationisten-Bewegung nahm Abschied vom auratischen Kunstwerk, dem Künstlermythos und dem Fernziel Revolution. »Das kommende Kunstwerk ist die Konstruktion des leidenschaftlichen Lebens«, heißt es da hitzig.

Das Ausstellungsszenario Heimstraße ist Werkstatt des Faktotums Hans-Wilhelm Kruse, dessen Hobel und Hämmer nun von Florentine- Liebesromanen, Bronze-Loreleien und Benimm-Regeln (»Der Herr erhält die Speisekarte und schlägt der Dame einige Gerichte vor, unter denen sie dann auswählen kann«) umringt sind. Kunstraum und Lebenswelt sind hier enger miteinander verflochten, als dem Mann wahrscheinlich lieb ist: Für die Dauer der Ausstellung teilt er seine Bude nicht nur mit irritierten Besuchern, sondern auch mit zwei gackernden, schwarzen Zwerghühnern. Besonders die Maler der Gruppe Spur, die weitaus humorvoller waren als die etwas spröden Pariser Situationisten um Guy Debord, praktizieren die »Entwendung«, Umdeutung solcher Trivia (Urlaubspostkarten, Comic- Strips, Kitsch) — Materialien, die ihnen im Strom der Alltagskultur zutrieben.

Das Urmodell solcher »Entwendung«, Picassos Stierkopf aus Fahrradsattel und Lenker, demonstriert, wie sanft diese Methode mit ihren Objekten und dem Betrachter umgeht: Statt eines überwältigenden Illusionismus wird der Prozeß deutlich, der vom Ausgangsmaterial zum Endprodukt geführt hat, ohne daß dieses Material verleugnet würde. Aus diesem Produktionsverständnis kann man natürlich auf gesellschaftliche Prozesse schließen. Den Trümmern der Vergangenheit, den Ruinen Berlins können beglückende Lebensverhältnisse auch dann abgetrotzt werden, wenn das Lenin-Denkmal erhalten bleibt und nicht der erneuten Verkündigung einer Stunde Null zum Opfer fällt — die Wirklichkeit als Found Object.

Durch Trümmer und Schutt führt dann auch der Weg des driftenden Ausstellungsbesuchers in den Ostteil der Stadt, ins Kulturzentrum Tacheles im ehemaligen Scheunenviertel um die Oranienburger Straße. Als sei jahrelang niemand mehr hier gewesen, liegen Steine und abgerissene Zäune im Treppenhaus. Ist es überhaupt hier?

Auf verwittertem blauen Grund finden sich Zitate über das Leben der versunkenen Stadt, der Schattengewächse, Walfische und der »embryonalen Realitäten«. Ausstellungsobjekt ist der Raum an sich, die Umgebung, die Geräusche, die Geschichte (das Scheunenviertel war einst der Zufluchtsort russischer Juden, die vor Pogromen in der Heimat flohen). Man fühlt sich wie in einem Film von Jean Cocteau. Von draußen dringen amerikanische Sprachfetzen herein. Dunkle Gestalten huschen die Treppe hinauf und tragen Trommeln und elektrische Gitarren vor sich her. Das Spiel beginnt...

Zurück in die Heimstraße, ins Warme. Die gesamte Küche der Ladenwohnung ist dem Museumsstück Dieter Kunzelmanns gewidmet, der als Zeuge aller vier Bewegungen — der Gruppe Spur, der Situationisten, der Kommune I und der Hausbesetzerbewegung — in einem Video Marke oral history von drei Herren interviewt wird, die etwa im selben Alter sind und also auch der eigenen Geschichte lauschen. Ministrant Kunzelmann, Demonstrant Kunzelmann, Angeklagter Kunzelmann, Lebenskünstler Kunzelmann — hatte der nicht wenigstens einen Koch bei sich? Waren alle vier Bewegungen Männerklubs? Oh nein, durchaus nicht. Die Damen durften nicht nur als tittenschwenkende Selbstbefreiungskatalysatoren fungieren, sondern sogar auch mal das Frühstück machen.

Ebenso mokant wie der Blick auf 17jährige Schülerinnen beim Frühstückmachen (nicht etwa auf Langhans) ist der Blick des Werkbund-Archivs auf die bürgerliche Kleinfamilie der 50er Jahre. Auf einem kleinen Podest hinter weißer Fläche, auf die Dias von Fassaden, Gesichtern, Reptilien projiziert werden, sitzt Mutter mit zwei Kindern in einem Nierentisch-Wohnzimmer und schaut Oswald Kolles Aufklärungsfilm Deine Frau, das unbekannte Wesen. In dem Arrangement ist ein Sessel leergeblieben. Where's Poppa? Das Spiel mit den Ängsten und der Aggressivität der 50er Jahre gipfelt in einer Hitchcock-inspirierten Szenerie um die Ecke, die hier durchaus nicht beschrieben werden soll. Beide Elemente, Kunzelmanns Männerklubs und die Abrechnung mit der Elterngeneration sind feste Bestandteile in der Rumpelkammer des Werkbund-Archivs und finden sich in fast jeder Ausstellung wieder. Sie sind ein kleiner Pferdefuß am Bein des Nilpferds auf den Spuren in eine unbekannte Stadt. Miriam Niroumand

Nilpferd des Höllischen Urwalds — Spuren in eine unbekannte Stadt , Ausstellung des Werkbund-Archivs, täglich von 16 bis 20 Uhr, Heimstraße 7, und ganztägig im Tacheles, Oranienburger Str. 38