Über die Geschichte rollt heute der Verkehr

■ Der Bayerische Platz wurde früher »Jüdische Schweiz« genannt/ Eine Gedenkstätte soll hier demnächst errichtet werden

Schöneberg. Wenig ist übriggeblieben von den Überlieferungen jüdischer Überlebender: vom »... Murmelspiel auf dem Bayerischen Platz, von den Schiffchen, die im großen Springbrunnen vom Stapel gelassen wurden, von den Kinos ‘Arkadia‚ und ‘Wittelsbach‚ in der Grunewaldstraße oder von der berühmten Bäckerei von Jahn kurz vor dem Bayerischen Platz, in der es alle Stunde frische Schrippen und Knüppel gab.«

Das Bayerische Viertel, im Volksmund oft auch »Jüdische Schweiz« genannt, war vor 1933 ein Schwerpunkt bürgerlich-jüdischen Lebens. Im Zuge der allgemeinen Ost-West-Wanderung nach der Jahrhundertwende wurde das Viertel in Schöneberg zum Wohn- und Arbeitsort zahlreicher gut situierter jüdischer Familien. Nicht nur Prominente des Kulturlebens wie Albert Einstein, Egon Erwin Kisch und Alice Salomon wohnten hier, sondern auch Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute und Architekten.

Auf dem Schöneberger Bebauungsplan von 1899 hieß der heutige Bayerische Platz noch »Platz Y«. Damals bestellten dort noch die Familien Hewald, Paetel und Albert ihre Felder. Acht Zufahrten zum Platz wurden damals geplant, weil Eckgrundstücke teurer zu verkaufen waren als Parzellen mit nur einer Straßenfront. Und Geld verdienen mit der Planung und Erschließung des Bayerischen Platzes und des umliegenden Bayerischen Viertels wollte sie, die »Berlinische Bodengesellschaft«, deren Direktor und Hauptgesellschafter Haberland die Idee vom vornehmen Miethausviertel hatte. So wurde das Bayerische Viertel — nach Entwürfen vor allem der Architekten Doebber und Preller — in weniger als einem Jahrzehnt erschlossen und bebaut, nach formalem Gesamtkonzept mit zentralem Schmuckplatz und davon strahlenförmig ausgehendem Straßensystem mit Namen bayerischer Städte von Aschaffenburg bis Berchtesgaden. Statt der ursprünglich geplanten Kirche auf dem heutigen Bayerischen Platz wurde die U-Bahn-Anlage gebaut. Repräsentative Hauseingänge, fast durchgehend Vorgartensituationen, die Dimensionierung der Wohnstraße mit ihren Baumpflanzungen, die Diagonalführung von vier Straßen über den Platz mit acht Einmündungen und vor allem der zentrale Schmuckplatz mit Grotte und Springbrunnen nach den Plänen von Fritz Encke verliehen dem Viertel den charakteristischen Ausdruck.

Nach 1933 änderte sich das Bild des Platzes vollständig. Anhand von Zeitzeugenberichten und Dokumenten ist die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung an vielen Stellen nachvollziehbar. Da bereits vor 1933 die Mehrheit der Anwohner des Bayerischen Platzes und seiner Umgebung jüdischer Herkunft war, richteten die Nazis hier eine Reihe sogenannter »Judenhäuser« ein. Jüdische Berliner aus allen Teilen der Stadt mußten ihre angestammten Wohnungen verlassen und in solche »Judenhäuser« ziehen. Zu ihnen gehörte auch Inge Deutschkron, die in ihrem Buch Ich trug den gelben Stern das Leben in solchen Häusern am Bayerischen Platz schildert.

Ehemalige Berliner, die heute die Stadt besuchen, werden den neuen Bayerischen Platz nicht wiedererkennen. Die Grunewaldstraße führt in voller Breite über ihn hinweg, und er selbst ist nach dem Zweiten Weltkrieg völlig umgestaltet worden. Die Schadenskarte von 1953 wies einen Zerstörungsgrad zwischen 40 und 60 Prozent der Bausubstanz im Bayerischen Viertel aus. Obwohl zahlreiche alte Gebäude wieder aufgebaut wurden und sich ganze Straßenzüge durch ihre renovierten Hausfassaden und gepflegten Vorgärten mit dem Charakter der Vorkriegszeit messen können, hat die Verkehrsplanung einschneidende strukturelle Veränderungen bewirkt, besonders hinsichtlich des Straßenbildes am Bayerischen Platz.

Die vom Land Bayern gestiftete Bronzeplastik des bayerischen Löwen (von Anton Rückel-München, 1958) sollte das neue Wahrzeichen des Platzes werden und daran erinnern, daß Bayern diesem Ort in Schöneberg seinen Namen gegeben hat. Für die Zukunft sind noch weitere Veränderungen im Viertel und um den Platz geplant. So zum Beispiel ist beabsichtigt, den Taxistand Ecke Grunewaldstraße/Bayerischer Platz aufzuheben und vor den U-Bahn- Eingang an die südliche Seite der Grunewaldstraße mit weiterem Warteraum an der nördlichen Seite zu verlegen. Die den Platz umlaufenden Radwege sollen von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn verlegt werden. Dadurch erweitern sich die Bürgersteige und die Fahrbahn für den Autoverkehr wird eingeengt. Ein Bebauungsplan für den nördlichen Bereich des Platzes sieht einen Anbau an das Bürogebäude der Hoch- Tief AG vor (Tiefbauamt).

Zur Erinnerung und Mahnung an die Vertreibung und Vernichtung von über 6.000 BürgerInnen jüdischer Herkunft aus Schöneberg in der Zeit des Nationalsozialismus hat die Bezirksverordnetenversammlung ferner beschlossen, auf dem Bayerischen Platz eine Mahn- und Gedenkstätte zu errichten. Zwei Open-air-Ausstellungen am Bayerischen Platz, mehrere öffentliche Veranstaltungen und Befragungen haben zu folgender Aufgabenstellung an die KünstlerInnen geführt: »Kein solitärer Gedenkstein, kein Schluß-Stein — sondern Stolpersteine — Steine des Denkanstoßes, des Mahnens und des konkreten Erinnerns.« Von den 96 eingereichten Wettbewerbsbeiträgen wurden acht Arbeiten ausgewählt, deren »Verfasser« um Weiterbearbeitung bis zum Frühjahr 1992 gebeten werden. Die acht ausgewählten Entwürfe erinnern, gedenken und mahnen auf ganz unterschiedliche und beeindruckende Weise.

Die Vorschläge reichen von nostalgischen Schildersymbolen zur Bewußtmachung der Etappen der Verfolgung — Schilder an Laternen des Viertels — (Renate Stih/Frieder Schnock/Jan Thomas Köhler) über eine elektronische Anzeigentafel mit Abfahrtszeiten der Deportationszüge, literarischen Texten und Deportationslisten (M. Rissler Möllring/M. Stankus) bis hin zu einem Gemischtwarenladen, in dessen Sortiment sowohl einfache Ingredienzien jüdischer Alltagskultur, als auch Neujahrskarten und Zutaten für den Freitagsabendzopf enthalten sein sollen. Parallel dazu werden drinnen und draußen Monitore aufgestellt, auf denen jüdisches Alltagsleben aus Städten wie Antwerpen, London, Paris, New York etc. zu sehen ist (Doro Etzler/Anet Jünger/Thomas Lang/Frank Meilchen). Zu den nicht in die nähere Auswahl genommenen Vorschlägen gehört auch manche befremdliche Idee. Beispielsweise sprach sich Sigurd Wendland vom Atelier Privat gegen einen Gedenkstein, eine »bemalte Brandmauer« oder einen »dekorativen Deportationsbrunnen« aus. Sie schlug vielmehr vor, Straßen umzubenennen — die Münchener Straße in »Gaskammerstraße«, die Salzburger Straße in »Denunziantenstraße« und die Luitpoldstraße in »Herrenmenschenstraße«. Barbara Bollwahn

Die Ausstellung der Wettbewerbsergebnisse ist noch bis zum 20. November täglich, außer montags, 12 bis 18 Uhr im Kunstamt Schöneberg, Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7 zu sehen.