SOMNAMBOULEVARD — ZUTRITT NUR FÜR UNBEFUGTE Von Micky Remann

Gestern, du wirst dich erinnern, promenierten wir wieder über den Somnamboulevard. Du machtest mich auf ein Loch in der Straße aufmerksam, eine Baustelle vielleicht oder ein offener Kanaldeckel. Bevor wir hinabstiegen, fiel dir eines der Warnschilder auf, deren Inhalt sich jedoch alle paar Sekunden ändert: „§1: Schlafräuber, die in anderer Leute Schlafeigentum besitzend eingreifen, ohne selbst schlafen zu wollen, werden mit Schlafentzug nicht unter zwei Jahren bestraft.“ — „§2: Wer geraubten Schlaf nachmacht oder verfälscht oder nachgemachten oder verfälschten Schlaf sich verschafft und in Umlauf bringt ebenso.“

Wir haben schließlich unsere Mittel, damit Unbefugte sich unwillkommen fühlen auf dem Somnamboulevard, hier, wo es Architektur gibt, aber keine Bauaufsicht, Zeit, aber keine Uhr, Gesetze, aber keine Moral. Wenn du dagegen verstößt, fliegst du eben raus, basta. Traum heißt unser Boulevard nur, solange du ihn von außen betrachtest, obwohl er dann erstens unsichtbar ist und du zweitens die Tatsache vergißt, daß du eben noch selbst hier warst und in ein paar Stunden wieder einer von uns sein wirst. Doch in dem Moment, da du den Somnamboulevard betrittst, ist „Traum“ weder Thema noch Begriff, sondern ein Wirklichkeitsgefühl, bei dem nicht zählt, was ist, sondern wie es dir vorkommt. Das dann aber ohne Zweifel.

Die Bewegung des Falles erinnert an den Fahrstuhl eines Luxushotels, und es ging schneller nach unten, als dir lieb war. Unten angekommen, sagtest du: „Herrlich! Hier könnten wir gut mit dem Turbolader des Herzens den Geschlechtsverkehr vollziehen!“ Ich deutete auf das Loch über uns. „Paß auf“, sagte ich und blies mit aller Kraft los. Augenblicklich ging ein mächtiger Sturm über uns los, Blätter und Häuser gerieten gleichermaßen ins Schwanken — damit hatte ich nicht gerechnet. Ich traute mich kaum noch zu atmen. Da nahmst du meine Hand und sagtest: „Ich will dir eine Geschichte erzählen. Als ein anderer Besucher, dessen Name nichts zur Sache tut, es war René Descartes, auf dem Somnamboulevard spazierte, widerfuhr ihm am 11.11.1919 folgendes: Nachdem er eingeschlafen war, glaubte er durch eine Straße zu gehen und dort merkwürdige Phantome zu sehen. Er war so entsetzt, daß er sich auf die linke Seite niederwerfen mußte, denn auf der rechten Seite fühlte er eine große Schwäche. Ein heftiger Wirbelsturm packte ihn, so daß er sich auf seinem linken Fuß im Kreis drehte. In seiner Not rief er: ,Ich träume, also zweifle ich‘, wobei ihm gleich noch der prekäre Umkehrschluß einfiel: ,Was ich klar erkenne, kann ich nicht bezweifeln, auch nicht im Traum.‘ Und dieser Wind war klar wie nichts. In dieser binären Desorientierung verließ Descartes den Somnamboulevard und wachte schweißgebadet auf, und zwar in Neuburg an der Donau, wo er im Heer Maximilians von Bayern im Winterlager war. Er fühlte sich beschissen, gelobte, zur heiligen Maria von Loreto zu pilgern, und entwarf für den Rest seines Lebens die Grundlagen des herrlichen, objektiven Weltbilds. Heute gibt es in Neuburg an der Donau einen Knast, einen Luftwaffenflugplatz, ein Altstadtcafé und ein Descartes-Gymnasium — aber die Straßen wirken wie leergefegt.“ Das erzähltest du, während der Fahrstuhl uns wieder abholte und wir durchs Loch im Pflaster wieder auf dem Somnamboulevard landeten, wo wir uns erst mal schlafend ausschliefen.