Freier Weg zum demokratischen Sozialismus

Die irische „People's Democracy“ sieht in den Ereignissen in Osteuropa ihre Thesen bestätigt  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Belfast im Sommer 1975. In der nordirischen Hauptstadt wimmelt es von „Revolutionstouristen“ aus dem Ausland, die den Krieg hautnah miterleben möchten. Wir, zwei Studenten der Freien Universität Berlin im vierten Semester, gehören auch dazu. Unser erster Weg führt uns zum Avoca Park, einem häßlichen, L-förmigen Flachbau im katholischen Andersonstown. In dem Gebäude sind ein Zeitungsladen, ein kleines Lebensmittelgeschäft und ein Buchladen untergebracht. Im Hinterraum des Buchladens hat die „People's Democracy“ (PD) ihr Büro.

PD wurde im Oktober 1968 von Studenten der Belfaster Queen's University gegründet und war Teil der Bürgerrechtsbewegung, die eigentlich selbstverständliche demokratische Grundrechte einklagte. Sie trat für eine Anpassung des politischen Systems Nordirlands an die bürgerlich-demokratischen Standards wie im Rest des Vereinigten Königreichs ein. Die Aufhebung der irischen Teilung war zunächst kein Thema, sondern es ging um allgemeines Wahlrecht — bis 1969 durfte bei Kommunalwahlen nur wählen, wer Steuern zahlte —, es ging um faire Vergabe von kommunalen Wohnungen und Abschaffung der diskriminierenden Einstellungspraxis im öffentlichen und privaten Sektor. Kaum einer der Bürgerrechtler ahnte damals, daß dem Einfordern gesellschaftlicher Gleichstellung ein nun bereits 22 Jahre tobender Bürgerkrieg folgen würde.

Die politische Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung schwand im Lauf des Jahres 1970 immer mehr. In den zunehmend von Gewalt gekennzeichneten Auseinandersetzungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen war für eine gewaltlose Bewegung kein Platz mehr. Die PD löste sich Anfang 1970 von der Bürgerrechtsbewegung, weil es dieser nicht gelungen war, eine überkonfessionelle Arbeiterbewegung aufzubauen: Nur eine Handvoll Protestanten hatte an den Aktionen und Demonstrationen teilgenommen. PD wollte in Zukunft selbständig aktiv werden.

Im Hinterraum des Buchladens im Avoca Park ging es damals hektisch zu. Sean und Maire hatten keine Zeit für uns. Sie packten einen Stapel Flugblätter in eine Plastiktüte, baten uns, beim Verteilen zu helfen. Erst unterwegs erfuhren wir, worauf wir uns eingelassen hatten. Die Flugblätter sollten in Short Strand, einer heruntergekommenen katholischen Enklave im protestantischen Ost-Belfast, verteilt werden. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen: als wir in das Viertel einbogen, fiel vom Dach des dreistöckigen Eckhauses ein Ziegelstein und landete krachend fünf Meter neben uns. Zufall?

Die Freundlichkeit der Bewohner beruhigte uns wieder. Niemand lehnte die Annahme des Flugblatts ab, viele verwickeln Sean und Maire in Diskussionen. Plötzlich hielt ein Jeep neben uns, Soldaten sprangen heraus und verlangten unsere Ausweise. Die Angaben wurden per Funk ans Hauptquartier durchgegeben. Ein paar Minuten später die Rückfrage: „Die beiden Ausländer sind wirklich Mitglieder dieser Organisation?“ — „Ja, offenbar, Sir. Sie verteilen schließlich ihre Flugblätter.“ In meiner grenzenlosen Naivität hatte ich den Text überhaupt nicht gelesen. Es ging darin um den Aufbau eines bewaffneten PD-Flügels, die „Revolutionary Citizens Army“: „Wir müssen uns deshalb bewaffnen, weil es keine Anzeichen dafür gibt, daß der Imperialismus seine politische und ökonomische Kontrolle selbstlos aufzugeben gedenkt, sondern letztlich nur eine Sprache kennt, seine eigene: die Gewalt.“

Belfast, 1991. „Peoples Democracy“ besteht als Gruppe immer noch, knappe zwei Dutzend Militante sind noch dabei. Sie lehnen heute den bewaffneten Kampf politisch ab; tatsächlich hat die „Bürgerarmee“ im nordirischen Konflikt nie eine Rolle gespielt. „Prinzipiell erkennen wir das Recht auf bewaffneten Widerstand zwar an, aber es ist in dieser Situation die falsche Taktik“, sagt Dermot, eines der verbliebenen PD-Mitglieder. Viele haben die Organisation in den Jahren 1986-87 verlassen und sind Sinn Fein, dem politischen Flügel der IRA, beigetreten, um die Partei von innen zu politisieren. Das ist zum Teil gelungen, wie PD-Mitglieder immer recht erfolgreich waren in der ideologischen Diskussion. „Die Leute haben allerdings ihre Möglichkeiten total überschätzt und sind heute ziemlich frustriert“, sagt Dermot. „Sinn Feins Wahlniederlagen haben den militaristischen Flügel gestärkt, weil sie politisch nichts erreichen konnten. Nordirland steckt in der schlimmsten Phase seit den frühen siebziger Jahren. Es fehlt an einer Perspektive.“ — Die Politisierung Sinn Feins ist, so Dermot, immer von außen bewirkt worden. Die Vorreiterrolle von „People's Democracy“ ist dabei immer wieder zu erkennen; so sorgte PD zum Beispiel dafür, daß bei Sinn Fein Frauenthemen, Rechte für Minderheiten und internationale Fragen auf die Tagesordnung kamen. „People's Democracy“ selbst ist vor über zehn Jahren der Vierten Internationale beigetreten und versteht sich als Teil der antiimperialistischen Bewegung. „Die Zwei-Phasen-Theorie Sinn Feins — erst nationale Befreiung, dann Sozialismus — lehnen wir ab“, betont Dermot. „Wir haben kein Interesse an einem vereinigten Irland, wenn das lediglich eine Erweiterung des Machtbereichs der Dubliner Regierung bedeutet.“

PD ist davon überzeugt, daß sich Nordirland militärisch nicht befreien kann, solange keine Mobilisierung in der Republik Irland stattfindet: „Mit dem bewaffneten Kampf kann man im Süden jedoch niemanden mobilisieren“, glaubt Dermot. „Was wir brauchen, ist eine neue republikanische Bewegung mit neuen Perspektiven.“ Im internationalen Kontext sieht Dermot dafür durchaus eine Chance: „Als Trotzkisten haben wir mit den Ereignissen in Osteuropa keine Probleme, sie haben unsere These bestätigt: Der Stalinismus war immer ein Hindernis für einen demokratischen Sozialismus, zu dem es keine Abkürzung gibt. Jetzt ist der Weg frei, wenn es auch zur Zeit nicht danach aussieht.“