Sprachröhrchen

Langzeitarbeitslose machen Filme: „Augenblicke“ in N3, 22.45 Uhr  ■ Von Achim Becker

Wer kann besser über „Außenseiter der Gesellschaft“ berichten, als die Betroffenen selbst? Dreimal im Jahr bietet der Norddeutsche Rundfunk ihnen die Gelegenheit: In jeweils 15minütigen Reportagen erzählen VertreterInnen von Randgruppen über ihre Erfahrungen, Nöte, Hoffnungen. Augenblicke heißt diese kleine Reihe der Redaktion „Bildung und Philosophie“.

In den vergangenen Jahren berichteten türkische MitbürgerInnen von ihrem Zusammenleben mit Deutschen und DDR-ÜbersiedlerInnen vor der Maueröffnung über ihre ersten Erfahrungen im Westen. In diesem Jahr sind Arbeitslose die Macher der Augenblicke-Reportagen. Es geht um die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf den Einzelnen, die Frage nach Bewältigungsmöglichkeiten. Antworten sollen die Erfahrungen und Eindrücke der Betroffenen geben.

Für die Herstellung dieser Filme rief der NDR in Tageszeitungen nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ganze Gruppen auf. Voraussetzung: die EinsenderInnen mußten sich mit anderen Arbeitslosen im Dialog über ihre Situation befinden. Einzelschicksale waren gefragt als Fallbeispiel für Gruppenerfahrungen.

80 Einsender kamen dem Angebot nach, ihre Situation auf zwei Seiten zu formulieren. „Eine sehr hohe Zahl an Einsendungen“, sagt Redakteurin Dr. Bettina Küster, „weil nur Arbeitslose aus dem Raum Hamburg teilnehmen sollten.“ Acht von ihnen konnten ihre Vorschläge in Drehbücher umsetzen, von denen drei verfilmt wurden. Dabei führten die Drehbuchautoren Regie, wie bei der Drehbuchgestaltung auch hier unterstützt von NDR-Mitarbeitern.

Die Reportagen schildern die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, die Gefühle und Verletzungen mit einer Intensität, die nur möglich ist, wenn Betroffene selbst die Instrumente der Mitteilung in den Händen halten. Daß dabei Schmerz und Leiden sehr persönlich vermittelt werden können, ohne auf die Tränendrüsen zu drücken oder an Mitleid zu appellieren, zeigte in der vergangenen Woche der erste Film Mit geballter Faust. Aufgrund von Isolierarbeiten mit Asbest wird ein Jugoslawe arbeitsunfähig und kämpft seit acht Jahren um die Anerkennung seiner Berufskrankheit. Die Reportage, authentisch, offen, direkt, macht gespannt auf die folgenden.

In Lieber geh ich betteln stammt das Titelzitat von einer 37jährigen Frau. Auf einem verlassenen Industriegelände lebt sie in einem Wohnwagen — mit ihrer sechsjährigen Tochter. Das Dickicht der Bürokratie und die Schikanen in den Ämtern machen der Mutter Angst. Da geht sie lieber mit ihrem Kind betteln in den Einkaufspassagen der Innenstadt.

Die kleine NDR-Reihe schließt mit einem Film, der Mut machen und Wege weisen will. Die Arzthelferin mit Literaturstudium Gudrun H. begreift ihre Arbeitslosigkeit mehr als Herausforderung denn Schicksal. Ihre zeitaufwendigen Bewerbungen sieht sie als spannende Aufgabe. Darüber hinaus besucht sie Literaturkurse, um ihre Kenntnisse zu erhalten und mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben.

Daß der Kontakt zu anderen Menschen, anderen Betroffenen, die vielleicht einzige Chance ist, Arbeitslosigkeit zu ertragen, hat sich Augenblicke auf die Fahnen geschrieben. Daß „Einzelkämpfer“ bereits über die Bewerbungsrichtlinien ausgegrenzt wurden, ist schade. Die negativen Folgen der Isolation aufzuzeigen, mag nicht weniger bewirken als gegenteilige Beispiele. Im nächsten Jahr wird es wieder drei dieser Sprachröhrchen für Randgruppen geben. Eine Ausweitung der Reihe ist aus finanziellen Gründen nicht möglich. Aber vielleicht greifen ja andere Rundfunkanstalten die Idee auf. Auch in Köln, München und Mainz gibt es Türken, Übersiedler, Arbeitslose und, und, und...

Heute zu sehen: Lieber geh ich betteln; 20. November: Arbeitslos und doch zu tun; jeweils um 22.45 Uhr, N3