INTERVIEW
: „Sie hatten kein Rückgrat“

■ Der tschechische Oppositionelle Jiri Ruml ist für Berufsverbote

Vor wenigen Tagen trat in der Tschechoslowakei das sogenannte „Durchleuchtungsgesetz“ in Kraft. Es sieht die Überprüfung all derjenigen Personen vor, die sich um eine Stelle in der staatlichen Verwaltung, der Armee sowie um höhere Positionen in Staatsbetrieben und Hochschulen bewerben. Diese „Funktionsträger“ dürfen nicht in den Registern der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes auftauchen, sie dürfen nicht Mitglied der Volksmiliz und in der KPC nicht mehr als Kreisvorsitzender gewesen sein.

taz: Das Durchleuchtungsgesetz ist nicht nur bei Václav Havel und Jiri Dienstbier, sondern bei einem Großteil der Unterzeichner der Charta 77 auf scharfe Ablehnung gestoßen. Sie jedoch gehören im Unterschied zu Ihren Freunden der ehemaligen Opposition zu den Befürwortern der Überprüfung.

Jiri Ruml: Es stimmt, viele Chartisten lehnen das Gesetz ab. Aber zu den Unterzeichnern der Charta gehören eben auch viele ehemalige Kommunisten. Und gerade weil das Gesetz in erster Linie Kommunisten trifft, lehnen sie es ab. Es erscheint ihnen zu undifferenziert, sie sagen, daß dadurch das Prinzip der Kollektivschuld eingeführt würde. Diesen Vorwurf muß ich zurückweisen. Schließlich sieht das Gesetz keine Prozesse vor, es wird niemand verurteilt werden, also gibt es auch keine Schuldzuweisungen, weder individuelle noch kollektive. Auch in anderen Staaten ist es üblich, für eine Tätigkeit im Staatsdienst bestimmte Voraussetzungen zu verlangen. Es gibt Bewerbungen und Auswahlverfahren, entscheidend sind die Ausbildung und andere Kriterien. Um viel mehr handelt es sich bei uns auch nicht. Ich sehe keinen Grund, von Diskriminierung eines Teils der Bürger zu sprechen. Ich sehe auch keinen Grund von einer Verletzung der Menschenrechte zu sprechen.

Sicher, es werden keine Gerichtsurteile gefällt, aber es wird doch über die Zukunft unzähliger Personen entschieden. Das Parlament beschloß mit diesem Gesetz die kollektive Verurteilung einer bestimmten Personengruppe. Es „genügt“, bei der Volksmiliz gewesen zu sein.

All diese Leute haben sich am Aufbau eines Unrechtsstaates beteiligt. Die Mitglieder der Volksmiliz mußten z.B. schwören, die kommunistische Gesellschaft mit der Waffe zu verteidigen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Volksmiliz in den Tagen der „samtenen Revolution“ 1989 sich auf einen bewaffneten Einsatz gegen die Demonstranten vorbereitete. Und schließlich: Die Volksmilizionäre haben uns wiederholt gesagt, daß sie zum Eintritt gezwungen wurden. Gut, andere wurden auch gezwungen, haben sich aber diesem Druck widersetzt. Ähnliches gilt für die Funktionäre. Sie wußten, daß sie schmutzige Arbeit machen, und haben sich gegenüber uns Oppositionellen oft dafür entschuldigt. Auch haben sie uns gesagt, daß es für sie Grenzen der Repression gebe. Diese würden sie nicht überschreiten. Doch im entscheidenden Augenblick haben sie dann doch mitgemacht. Sie hatten einfach kein Rückgrat, keine Moral. Niemand hat die Funktionäre gezwungen, Funktionär zu sein. Sie taten es aus freiem Willen, nun müssen sie die Verantwortung dafür tragen.

Vielleicht hatte aber manch ein Kommunist auch „ehrliche“ Absichten, wollte wirklich „etwas Gutes“ für die Gesellschaft tun?

Sicher gab es die. Ich kenne einige von ihnen. Aber, nehmen wir an, es gäbe dieses Gesetz nicht, wäre das gerecht gegenüber den Hunderttausenden, die nicht zur Nomenklatura, zum kommunistischen Apparat gehörten? Deren Kinder nicht studieren durften, nicht die gleichen Privilegien wie die Kinder der Apparatschiks genießen konnten?

Der Gesetzentwurf der Regierung sah jedoch den Nachweis konkreter Vergehen — z.B. gegen die Menschenrechte — vor.

Diese Überprüfung hätte viel zu lange gedauert. Sie wissen, wie es in unserer Justiz aussieht. Wir haben viel zu wenige Richter. Viele warten ein dreiviertel Jahr auf ihren Prozeß.

Ein Parlamentsabgeordneter beurteilte das Gesetz als „Niederlage für die Demokratie“. Und ist es nicht tatsächlich eine Niederlage für die Bürger? Schließlich gibt es unzählige Betriebe, in denen die Angestellten genau wissen, daß ihr Chef noch vor zwei Jahren Mitglieder der demokratischen Opposition entlassen hat. Niemand aber wagt es, sich für die Ablösung der alten Strukturen einzusetzen. Lieber wartet man auf eine Regelung „von oben“.

Sicher, zu uns kommen viele Arbeiter aus den Betrieben und wollen, daß ihnen in solchen Fällen geholfen wird. Natürlich sind wir der Meinung, daß die Menschen diese Probleme selbst lösen sollten. Dennoch ist ein Gesetz die Voraussetzung für den Beginn des Prozesses. Denn es wäre doch schlimm, wenn es zu „wilden“ Säuberungen gekommen wäre.

Doch jetzt kann von unten in diesen Prozeß nicht mehr eingegriffen werden. Jetzt wurde die Säuberung von oben in Gang gesetzt.

Ich sage nicht, daß das Gesetz vollkommen ist. Aber wer von denen „unten“ kann denn nachweisen, daß ihre Vorgesetzten die Menschenrechte verletzt haben?

Zum Beispiel die Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen.

Es gab aber auch viele Stasi-Mitarbeiter, die nicht damit beschäftigt waren, ihre Nachbarn zu überwachen. Wie kann man bei ihrer weitverzweigten Tätigkeit nachweisen, was eine Verletzung der Menschenrechte war und was nicht?

Dieses Gesetz trifft auch Alexander Dubcek...

Das ist völlig in Ordnung. Alexander Dubcek war Teil des Parteiapparates, er war in der Mitte der fünfziger Jahre Kreisfunktionär in Trencin, er war lange Jahre Mitglied des Zentralkomitees der slowakischen KP, er war im Politbüro, studierte in Moskau auf der Parteihochschule. Im Jahr 1969 unterschrieb Dubcek als Parlamentspräsident ein Gesetz, das die Verfolgung Tausender Reformkommunisten ermöglichte. Diese Leuten wurden entlassen, ihre Kinder durften nicht studieren. Und dieser Dubcek ist heute gegen das Durchleuchtungsgesetz.

Aber ist der politische Mut Dubceks, gegen den Willen Moskaus das realsozialistische System zu demokratisieren, nicht höher zu schätzen als die unter Druck erfolgte Unterzeichnung des Gesetzes?

Welcher Mut? Sicher, Dubcek öffnete die Türen, dafür schätze ich ihn. Aber als Breschnew ihn im August 68 nach Moskau bringen ließ, hatte er nicht genug Widerstandskraft, das seinem Land aufgezwungene Unterwerfungsprotokoll nicht zu unterzeichnen. In der ersten Zeit der Normalisierung unter Gustav Husak war er außerdem Parlamentspräsident. Das mindert sein Verdienst.

Die Gegner des Gesetzes sind der Ansicht, daß dieses bis zu einer halben Million Tschechen und Slowaken treffen könnte. Kann es sich die Tschechoslowakei in der jetzigen Situation des Umbaus des gesamten wirtschaftlichen und politischen Systems überhaupt leisten, auf so viele Menschen zu verzichten?

Hier handelt es sich um ein Mißverständnis. Die jetzt verabschiedeten Bedingungen für eine Tätigkeit in der staatlichen Verwaltung gelten für etwa 3.000 Positionen. Es können theoretisch 3.000 Funktionäre entlassen werden. Die Zahlen, die in die Hunderttausende gehen, beziehen sich auf die Zahl der Personen, die sich um diese Stellen bewerben. Wie viele jedoch tatsächlich entlassen werden bzw. aufgrund ihrer Vergangenheit eine bestimmte Funktion nicht ausüben können, das kann jetzt noch nicht gesagt werden.

Ein weiterer Grund für das Durchleuchtungsgesetz ist nach Ansicht seiner Befürworter die Behinderung des neuen Systems durch die alten Strukturen. Aber sind diese Befürchtungen begründet? Sind sie nicht vielmehr Teil einer antikommunistischen Kampagne?

Vielleicht ist es übertrieben, zu behaupten, die alten Strukturen arbeiteten gegen die Demokratie. Aber: Sie arbeiten so weiter wie bisher, das heißt sie tun auch nichts für das neue System. Zum einen, weil sie das Gefühl haben, daß ihre ganze bisherige Arbeit in den Dreck gezogen wird. Zum anderen aber, weil sie immer noch auf einen Umschwung hoffen. Ich bedauere, daß der Putsch in Moskau nicht ein paar Tage länger gedauert hat. Dann hätte sich gezeigt, wie viele noch immer für dieses alte System eintreten. Interview: Sabine Herre, Prag

Jiri Ruml ist Vorsitzender der Parlamentarischen Kommission, die die „Ereignisse des 17. November“ untersucht; er war Sprecher der Charta 77 im Jahre 1984 und Mitglied der KPC bis zu seinem Ausschluß 1969; er ist Journalist und gründete 1987 die Samisdat-Zeitung 'Lidove noviny‘, die heute zu den bedeutendsten Tageszeitungen der CSFR zählt.