Gewerkschaften suchen den Weg aus der Spaltung

Zwischen DGB und DAG setzt ein tastender Dialog über gemeinsame Perspektiven ein/ Denn beiden droht Bedeutungsverlust  ■ Von Martin Kempe

Berlin — Im Moment spielt sich alles noch im Reich der Vorstellungen ab. Noch hat sich an der über vierzig Jahre alten Ordnung der deutschen Gewerkschaftsbewegung nichts rechtes geändert. Hier der deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsgewerkschaften, da die „ständische“ Konkurrenz von der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) und einigen Berufsverbänden.

Doch seit einiger Zeit mehren sich die Stimmen für eine Überwindung des feindlichen Nebeneinanders. Es sei „Wunsch und Wille“ beim DGB wie auch bei der DAG, langfristig zu „gemeinsamen organisatorischen Lösungen“ zu kommen, erklärte DGB-Sprecher Hans-Jürgen Arlt kürzlich. Gearbeitet werde daran jedoch noch nicht. Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik befinden sich derzeit in der Vorphase einer organisatorischen und politischen Neuorientierung, in einem tastenden Dialog über die Notwendigkeit, die jahrzehntelange Spaltung zu überwinden.

Das erste Signal hat vor vier Jahren der damals neugewählte DAG- Vorsitzende Roland Issen gesetzt. Er forderte die Beendigung der Konkurrenz zwischen der Angestellten-Gewerkschaft und den im Deutschen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Organisationen. Anfang Oktober stellte er nun in Aachen während des DAG-Gewerkschaftstages fest, daß sich das Klima zwischen den Gewerkschaftsbünden seither deutlich verbessert habe und es in einigen Bereichen — beispielsweise beim Konflikt um den Ladenschluß oder bei den Verhandlungen mit der Treuhand — bereits eine konkrete Kooperation mit den DGB-Gewerkschaften gebe. Aber ein einfacher Zusammenschluß, so Issen, gehe „an den Realitäten vorbei“.

Indirekt erteilte er damit seinem Hauptkonkurrenten, dem Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Lorenz Schwegler, eine vorläufige Absage.

Schwegler hatte Ende Oktober vorgeschlagen, die 16 Einzelgewerkschaften des DGB sollten sich zu weniger als zehn starken „Holdinggewerkschaften“ bündeln, wobei ihm für seinen eigenen Bereich eine starke Dienstleistungsgewerkschaft unter Einschluß der DAG vorschwebt. Daß die DAG sich nicht einfach zugunsten einer solchen Option auflösen wird, ist allerdings auch dem HBV-Vorsitzenden klar.

Schwierig ist die Diskussion um die Neugestaltung der deutschen Gewerkschaftslandschaft vor allem deshalb, weil DGB und DAG nach gegensätzlichen Organisationsprinzipien aufgebaut sind. Grundlage der DGB-Gliederung ist das Branchenprinzip, wonach alle abhängig Beschäftigten einer Branche sich in der zuständigen DGB-Gewerkschaft organisieren können. Die DAG dagegen erhebt den Anspruch, die Angestellten aller Branchen zu vertreten. Aus diesem Grunde war schon beim Neuaufbau der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gewerkschafts-Hochzeit gescheitert: Die DGB-Gewerkschaften wetterten gegen die „ständische“ Orientierung der DAG, die lediglich die Privilegien der Angestellten gegen die Arbeiter verteidigen wolle und deshalb oft genug wie eine „gelbe“ Gewerkschaft mit den Arbeitgebern kungele.

Die DAG wiederum bezichtigte die arbeiterdominierten DGB-Gewerkschaften, sie vernachlässigten die Interessen der Angestellten zugunsten der Arbeiter.

Entscheidend für die neuerliche Annäherung ist die Einsicht, daß gespaltene Interessenvertretung für Angestellte in einer modernen Industriegesellschaft zum Scheitern verurteilt ist und damit allen beteiligten Gewerkschaften in den nächsten Jahren ein Bedeutungsverlust droht. Die DGB-Gewerkschaften tun sich auf Grund ihrer Arbeiterdominanz immer noch schwer mit den Angestellten, obwohl diese inzwischen die Mehrheit aller abhängig Beschäftigten stellen und ohne sie in vielen Betrieben kaum noch effektiver Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt werden kann. Und der DAG geht mit dem Trend zur tarifpolitischen und arbeitsrechtlichen Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten langsam aber sicher ihr konstituierendes Organisationskriterium verloren. Auch durch die deutsche Einheit ist die DAG unter Druck gekommen. Denn in den neuen Ländern konnte sie bislang nicht wie erhofft Fuß fassen. In der alten DDR waren alle Beschäftigten, ob Angestellte oder Arbeiter, in der linientreuen Einheitsgewerkschaft FDGB organisiert. Ein „ständisches“ Angestelltenbewußtsein konnte sich nicht entwickeln. So organisierten sich auch nach der Wende nahezu alle Angestellten in den zuständigen Branchengewerkschaften des DGB. Nur 90.000 fanden in Ostdeutschland bisher den Weg zur DAG, die mit ihren nunmehr rund 600.000 Mitgliedern ihren Platz als viertgrößte Gewerkschaftsorganisation der Bundesrepublik nicht halten konnte.

Vorerst betonen alle an den Annäherungsüberlegungen Beteiligten ihre Bereitschaft zu konkreter Kooperation in der Auseinandersetzung mit Arbeitgebern und Staat. Gleichzeitig aber muß der DGB unabhängig davon nach Lösungen für seine eigene, hausgemachte Krise suchen. Wie machtlos der DGB inzwischen gegenüber den eigenwilligen Mitgliedsgewerkschaften geworden ist, zeigt sich an seinen vergeblichen Schlichtungsversuchen im Abgrenzungsstreit zwischen ÖTV und IG Bergbau und Energie. Bislang war der DGB nicht in der Lage, seinen Schiedsspruch, wonach der Energiesektor in den neuen Ländern entsprechend der Regelung in den westlichen Ländern zum Bereich der ÖTV gehört, gegenüber der IGBE durchzusetzen. „Wenn zentrale Organisationsabgrenzungen selbst noch nach Schiedssprüchen umstritten bleiben, wird der Dachverband aufgrund fehlender Sanktionierungsmacht zur traurigen Figur“, konstatierte eine Autorengruppe aus hohen DGB- Funktionären im Juni-Heft der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“.

Aber die Autoren Hans Jürgen Arlt (DGB-Pressesprecher), Karl Feldengut (Leiter der DGB- Grundsatzabteilung) und Hans O.Hemmer (Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte) haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Gerade die sozialen Probleme in den neuen Ländern lassen sich nur durch branchenübergreifende Interessenvertetung angehen, eine Aufgabe, die dem DGB eigentlich auf den Leib geschrieben sein müßte. Deshalb müßten letztlich auch die Mitgliedgewerkschaften eine Stärkung des DGB wollen und ihm eine „gesamtgewerkschaftliche politische Verantwortung trotz punktuell abweichender Auffassungen zugestehen“. Gerade wegen der Herausforderungen der deutschen Einigung böte sich den Gewerkschaften die Chance, „sich als soziale Bewegung und als funktionsfähiger Apparat zu reorganisieren“. Es gebe keine Alternative: „Wer will, daß der DGB und seine Mitgliedschaft bleiben, wie sie sind, will nicht, daß sie bleiben.“