Die leise Sehnsucht

■ Mutter Hadwiga, Mutter Lucia und Mutter Raffaelis: Eine ehemalige Klosterschülerin erinnert sich

Mutter Hadwiga vertrat den freundlich-roten Kugeltyp. Mit wehendem Schleier und wallenden Röcken, die Arme ausgebreitet, stürmte sie in die Klasse, wo ich zwischen Resi Henselowski und Miriam Hengsbach (der Nichte vom Bischof — bei dem die arme Maus auch noch leben mußte!) saß und mich schon auf ihren Deutschunterricht freute, den sie am liebsten mit gruseligen Anekdoten aus der Diaspora würzte.

Die schlimmste Diaspora (in unserer Vorstellung so was ähnliches wie eine irdische Hölle) mußte die Ostzone gewesen sein, wo Mutter Hadwiga gern einen mitleidigen Blick reinwarf, wenn sie Klassenreisen nach Berlin begleitete. Weil es den armen Menschen in der Diaspora so schlecht ging, durften wir unentwegt Groschen in einen Negerkopf stecken, der danach dankbar auf und nieder wackelte, oder Perlonstrümpfe und Kakao in Päckchen packen.

Ich liebte Mutter Hadwiga, weil sie so rund und rotbackig war und bei den atemlos vorgeflüsterten Horrorgeschichten, wie um sich selbst zu wärmen, die Arme tief in den schwarzen, weiten Ärmeln verschränkte.

Ganz anders die herbe Mutter Lucia, die in Latein oder Musik schon mal gern mit Schwamm oder Kreide nach mir schmiß und rauh lachte, wenn der Wurf gelang. Entgegen allen neupädagogischen Empörungen über cholerische Lehrkörper fanden wir Lucia klasse. Später, als ich schon längst nicht mehr bei den Augustiner Chorfrauen, die sich Beatae Mariae Virginis geweiht hatten, weilte, kam mir zu Ohren, daß sie den Orden verlassen habe und mit drei Frauen in einer WG lebe.

Allgemeines Entzücken herrschte über Mutter Raffaelis, die mehr oder weniger erfolgreich das Sticken lehrte und immer wieder das Gebet zum heiligen Antonius empfahl, wenn die Sticknadel wieder mal weg war. Antonius war nämlich zuständig für verlorene Sachen (aber wahrscheinlich nicht für Sticknadeln — es half überhaupt nicht), und wenn es mal zu unruhig wurde, sagte Raffaelis mit milder Strenge: » Wie heißt das schöne Wort? Klasse im Chor!« Und die Klasse gröhlte enthusiastisch im Chor: »Selbstbeherrschung!«

Ob Mutter Agatha, die uns die Standpauken gegen das Klauen von Schminke im Kaufhaus hielt — das hatte die blöde Marita gepetzt —, oder Mutter Pia, eine Erbin der Eierlikörfamilie Verpoorten, die gern zu Geldspenden aufrief, oder die dicke Canisia, die beim Essen wegguckte, wenn man den ekligen Hering in Gelee in die Rocktasche matschte — ich kann mich an keine Sadistin erinnern.

Viel schlimmer waren die weltlichen Lehrerinnen, meistens zuständig für ätzende Fächer wie Latein oder Mathe, frustrierte, widerliche Hennen — ja, auch noch unverheiratet! —, die ihren ganzen Zorn auf kleinen, hübschen Mädchen abluden, frömmelnder als jede Ordensschwester waren und niemals deren würdige Schönheit erreichten, die diese in der Sicherheit der Klostermauern und der schwarz-weißen Ästhetik ihrer einhüllenden Gewänder gefunden hatten.

Und manchmal frage ich mich, in Stunden leichter Melancholie,ob das nicht schön wäre: ein Leben in Ruhe und Ordnung, mit orare und laborare, immer zur gleichen Zeit das Essen auf dem Tisch, kein Ich- hab'-nichts-anzuziehn-Streß, nur nette Schwestern um mich her... wenn da nur nicht die verflixte Verlobung mit dem kindlichen Bräutigam wäre. Renée Zucker