Nur Mathe ist verständlich

■ Kindern, die nicht aus der Türkei kommen, nützen Vorbereitungsklassen wenig

Berlin. Als Shuang Shuang vor einem Jahr in Schönefeld aus dem Flugzeug kletterte, wußte sie so gut wie nichts über das Land, dessen Sprache sie nicht sprach, und die Stadt, die fortan ihr Zuhause sein sollte. Alles war fremd für die Elfjährige, vieles bedrohlich. Daß die Menschen um sie herum in einer völlig anderen Sprache redeten, wurde ihr erst richtig bewußt, als sie wenige Tage nach ihrer Ankunft in eine deutsche Regelklasse gesteckt wurde. Daß auch einige ihrer neuen KlassenkameradInnen mit der Sprache haderten, die sie im Unterricht sprechen mußten, war für Shuang Shuang nicht feststellbar.

Mühsam prägte sie, die in ihrer alten Klasse in China zu den Besten gezählt hatte, sich die ersten deutschen Wörter ein: Auto, Füller, Tisch, Stuhl gehörten zu den Begriffen, denen sie bald im Geiste einen Gegenstand zuordnen konnte. Sie selbst blieb lange Zeit stumm. Noch heute fühlt sie sich vor allem in deutschintensiven Fächern verloren. Während die anderen Kinder etwas über die Berliner Bezirke erfahren oder eine Kurzgeschichte diskutieren, schaut sie auf ihr Buch oder aus dem Fenster und denkt an ihre Freundinnen in China. Ihr fehlen viel zu viele Wörter, um Zusammenhänge herstellen zu können. Daß sie mittlerweile dank des Förderunterrichtes und der Schulhilfe, die zweimal die Woche ins Haus kommt, recht gut lesen kann, nutzt ihr wenig. Einzig im Mathematikunterricht blüht sie auf: Rechnen kann sie viel besser als ihre deutschen KlassenkameradInnen.

In ihrer Freizeit verkriecht sie sich in ihrer Wohnung, liest chinesische Bücher, schaut gemeinsam mit ihren Geschwistern aus der Heimat importierte Videofilme an oder spielt mit den chinesischen Nachbarskindern. Letztere sind schon länger in Deutschland und helfen ihr manchmal bei den Hausaufgaben. Shuang Shuangs KlassenkameradInnen bringen selten die nötige Geduld auf, sie zu verstehen beziehungsweise sich ihr gegenüber verständlich zu machen. Trotzdem kämpft Shuang Shuang nach einem Jahr in Deutschland tapfer mit der neuen Sprache, auch wenn sie jeder Satz noch große Mühe kostet.

Wäre Shuang Shuang Türkin, wären ihr diese Frustrationserlebnisse wahrscheinlich erspart geblieben. Denn für Kinder aus der Türkei gibt es in vielen Bezirken sogenannte Vorbereitungsklassen, in denen die Neuankömmlinge zwei Jahre lang intensiv Deutsch lernen können. Außerdem wird ihnen dort in ihrer Muttersprache ein Grundwissen über die neue Umwelt vermittelt, in der sie sich zurechtfinden müssen. Erst nach dem Besuch dieser Vorbereitungsklassen werden die Kinder ihrem Alter und ihrem Bildungsstand gemäß in deutschen Regelklassen integriert. Doch auch für Kinder anderer Nationalitäten schreiben die Berliner »Ausführungsvorschriften über den Unterricht für ausländische Kinder und Jugendliche« einen anderen Weg als die bloße Einschulung in Regelklassen vor, wie dem entsprechenden Dienstblatt zu entnehmen ist. »Ausländische Schüler, die nicht in Vorbereitungsklassen aufgenommen wurden [...] und die deutsche Sprache zunächst noch nicht so beherrschen, daß sie dem Unterricht folgen können, erhalten unverzüglich nach der Aufnahme in besonderen Kursen Deutschunterricht.« Dieser Deutschuntericht fällt, so wird ausgeführt, in den Aufgabenbereich der Schulen und soll entweder schulintern oder, wenn in einer Schule nicht genügend Kinder zusammenkommen, schulübergreifend organisiert werden.

In den Kursen lernen die DeutschanfängerInnen zwei Stunden täglich, für die sie vom normalen Schulunterricht befreit sind, intensiv Deutsch. Diese Hilfe ermöglicht zumindest einigen Kindern den Anschluß an das Lernniveau der deutschen Regelklasse. Shuang Shuang nützen die Ausführungsvorschriften des Senats und die Auskünfte einiger Schulräte, daß dieses Verfahren in ihren Bezirken gängige Praxis ist, recht wenig. Obwohl sie im Bezirk Kreuzberg zur Schule geht, in dem das Zusammenstellen von Deutschkursen keine allzu großen Mühen bereiten dürfte, wird ihr Schulalltag wohl weiterhin vom Nichtverstehen geprägt sein. Sonja Schock