King Garri und das seriöse Schach

■ Der Niederländer Jan Timman zog den Weltmeister Kasparow beim Blitzschach übers Brett

Berlin (taz) — Müssen Schachturniere vor Langeweile triefen? Zumindest die rund 5.000 Zuschauer, die am vergangenen Wochenende in Paris 16 Weltklassegroßmeister in Action erlebten, dürften vom Gegenteil überzeugt worden sein. Anders als beim gewohnten stunden- und wochenlangen Figurengeschiebe im Mittelfeld, erlaubte das ründliche Knockout im Théatre des Champs- Elysées keinen Gedanken an Remis. Statt drei Minuten pro Zug war die Brüterzeit auf 25 Minuten pro Spieler und Partie beschränkt. Statt stündlicher positioneller Fortschritte waren Duelle auf Matt oder Blättchenfall angesagt.

„Wer in der ersten Runde ausscheidet wird behaupten, das hat mit Schach wenig zu tun. Die Viertelfinalisten werden sagen, das ist mal ganz interessant, aber sicher nicht seriös. Und für den Sieger ist es das Schach der Zukunft.“ Als Viswanathan Anand diese weise Prognose wagte, galt er noch als Geheimtip für den mit 400.000 Francs (etwa 130.000 Mark) dotierten Turniersieg. Der 21jährige Shootingstar des letzten Jahres benötigt in seinen Partien nämlich gewöhnlich kaum mehr Bedenkzeit, als in diesem Wettbewerb zur Verfügung stand. Tatsächlich beschwindelten die schnellen Finger in Runde eins den nach 13 Jahren endlich eingeschweizerten Viktor Kortschnoi. Auch Waleri Salow (bisher St. Petersburger, demnächst Spanier) war perplex, nachdem Anand ihn im Viertelfinale mit gerade mal drei Minuten Reaktionszeit vorführte. Doch im Halbfinale dachte der Amsterdamer Jan Timman noch schneller, Anand war draußen, immerhin aber in illustrer Gesellschaft.

Zu den Opfern des lange Zeit als „Best of the west“ gehandelten Timman zählte auch das 17jährige Ausnahmetalent Gata Kamski, der darob aber diesmal immerhin nicht von seinem ihn managenden Vater, einem Ex-Boxer, ausgezählt wurde. Doch nicht nur er, auch Vizeweltmeister Anatoli Karpow und schließlich gar King Garri himself mußten gegen Jan den König vom Brett nehmen. Timmans Finalsieg über Weltmeister Kasparow wurde von den Fans und jenen auf den Ehrenplätzen minutenlang und gar nicht schachlich-nüchtern beklatscht.

Das Geheimnis von Timmans fehler- und zeitnotfreiem Spiel: „Ich bin ein intuitiver Spieler, und da kommt mir das Zeitlimit natürlich entgegen.“ Besonders vorbereitet habe sich der Niederländer auf diesen Wettbewerb, abgesehen von ein paar Gläsern Bordeaux, nicht.

Wenige Tage zuvor in Tilburg war der Einlauf noch andersherum gewesen. Während Timman seine Landsleute enttäuschte, hatte Kasparow einen glänzenden Sieg errungen. In Paris versuchte der Erfolgsverwöhnte dann seine Niedergeschlagenheit auch gar nicht zu verbergen und zweifelte, wie von Anand prophezeit, an der Seriosität der praktizierten Variante des königlichen Spiels.

Kasparow hatte aber auch am meisten zu verlieren: Wäre er im Achtelfinale ausgeschieden, hätte er nicht einmal ein Drittel seines gewohnten Tageshonorars erhalten. Stefan Löffler