DEBATTE
: Alle Angst geht von den Akten aus

■ Der Einblick in die Stasi-Akten ist wie das Öffnen der Büchse der Pandorra

Ich will meine Akte haben!“ Das Graffiti, schwarz auf einen Verteilerkasten gegenüber dem Eingang zur einstigen Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg gesprüht, zeugte lange vom Willen der Bürgerbewegten, die am 15. Januar 1990 in die Festung des Ministeriums für Staatssicherheit eindrangen. Die Parole ist, wie viele andere auch, vor wenigen Monaten entfernt und der Kasten neu gestrichen worden.

Die BürgerrechtlerInnen aus der alten DDR konnten sich zwar nicht in all ihren Forderungen zum Umgang mit den Stasi-Akten durchsetzen — aber wenn der Bundestag heute eine gesetzliche Regelung für den weiteren Umgang mit den Hinterlassenschaften der Staatssicherheit verabschiedet, ist es tatsächlich die „Trendwende“, von der der Leiter der Aktenbehörde, Joachim Gauck, spricht. Es sei, wie der Schriftsteller Thilo Koch gestern in der 'Welt‘ schrieb, eine Büchse der Pandora, die geöffnet wird. Sechs Millionen von der Staatssicherheit angelegte Personendossiers, vier Millionen über Ost- und zwei Millionen über Westdeutsche warten darauf, von den Bespitzelten eingesehen zu werden.

Ein historisches Ereignis ohne Vorbild, wenn das in 35 Jahren angesammelte Herrschaftswissen der Mächtigen im SED-Staat an die Bevölkerung zurückgegeben wird. Auch wenn es für den Einzelnen im Regelfall kein schönes Ereignis sein wird. Wer in seine Akte blickt, wird mit einem Abbild konfrontiert werden, das der DDR-Staat über ihn anfertigen ließ. Unerfreulich wird es deswegen, weil die Offiziere der Stasi alles daran gesetzt haben, die persönlichen Schwächen der einzelnen auszuforschen. So manche Lebenslüge wird bei der Lektüre zusammenbrechen; denn neben den Banalitäten, die die Stasi sammelte, wird mancher erkennen müssen, daß die Stasi ihn — vielleicht völlig zu Recht — nur als schlichten Mitläufer im ersten Arbeiter- und Bauernstaat einschätzte.

Der Schrecken, den die Stasi-Akten verbreiten können, wird aber weit über eine deskriptive Beschreibung persönlicher Biographien hinausgehen. Ob Schule, Studium oder Arbeitsplatz, Tausende werden aus ihren Dossiers erfahren, wie das Ministerium ganz konkret in ihre Laufbahn und Lebensplanung eingriffen hat und welche Person dafür persönlich verantwortlich zeichnet. Freundschaften werden zerbrechen, wenn Antragsteller feststellen müssen, daß sie von ihren engsten Bekannten an die Stasi verraten wurden; es könnte im schlimmsten Fall sogar der Ehegatte gewesen sein.

Neben einzelnen Personen werden aber auch politische Gruppen ihr Handeln aufgrund der Stasiakten neu bewerten müssen. Schillerndes Beispiel dafür ist der Stasi-Spitzel Dirk Schneider, der über Jahre wesentlichen Einfluß auf die Deutschlandpolitik der grünen Partei hatte.

Die Dimension des Prozesses, der mit der Öffnung der Archive in Gang kommt, wird derzeit durch die Zensurdebatte im Zusammenhang mit der Frage nach dem Zugang der Medien zu der Stasi-Hinterlassenschaft verdeckt. Erste und wichtigste Funktion des Gesetzes ist es, den Opfern der Staatssicherheit ihre Würde wiederzugeben: das Wissen darum, wann, wie und warum die Staatssicherheit in die eigenen Geschicke eingegriffen hat. Vornehme Aufgabe des Gesetzes ist auch, daß die ehemaligen Täter zur Verantwortung gezogen und die Opfer rehabilitiert werden können. Daß die Medien dabei nicht ausgeschlossen sein dürfen, versteht sich von selbst — ohne sie wäre bisher nur ein Bruchteil des Wissens um die Größe und Wirkung der Staatssicherheit bekannt geworden.

Die Bonner Gesetzgeber, allen voran die Rechtsexperten (aus dem Westen) der Fraktionen, haben es allerdings geschafft, den wirklich einschneidenden Schritt in aller Öffentlichkeit zum kleinlichen Gezänk um einzelne Detailbestimmungen herunterzureden. Sie tun gerade so, als ob es bisher in der Bundesrepublik keine juristischen Bestimmungen gibt, die die sogenannten schutzwürdigen Belange von Stasi-Opfern oder Dritten garantieren. Die Ironie dabei ist, daß es wahrscheinlich die Ahnung um das Ausmaß der Verwerfungen und Belastungen ist, die mit dem Öffnen der Akten auf die Bundesrepublik zukommen und die den Prozeß begleiten werden. Es ist der hilflose Versuch zu kanalisieren, was nicht kanalisiert werden kann. Der Leiter der Sonderbehörde nennt dies optimistisch dennoch einen „gesellschaftlichen Heilungsprozeß“. Wenn, wie geschätzt, monatlich bis zu 100.000 Personen ihre Anträge auf Akteneinsicht stellen werden, wird es an allen Ecken und Enden zwangsläufig zu neuen Stasi-Verdächtigungen kommen, wird denunziert und beschuldigt werden. Im Gegensatz zur derzeitigen Regelung werden die Gerüchte und Verdächtigungen dann allerdings überprüfbar und konkrete Sachverhalte offengelegt werden können. Der Sprengstoff, den die 202 Kilometer Stasi- Akten bergen, läßt sich durch besonders abgefaßte Presseregelungen — egal wie weit oder eng sie gefaßt werden — jedenfalls nicht bändigen.

Das Gesetz um die Stasi-Unterlagen zeugt auch von einer anderen Furcht, die derzeit im Westen Deutschlands umgeht: Die Angst darum, was die Staatssicherheit an unbequemen Wissen über die Westler angehäuft haben könnte. Bekanntermaßen hat das Ministerium für Staatssicherheit nicht nur westdeutsche Politiker und Geheimdienste intensiv ausgeforscht. Das Interesse galt ebenso der bundesrepublikanischen Wirtschaft, der Forschung in Hochschulen und Betrieben, nicht zuletzt versuchte die Stasi auch, Einfluß auf die westdeutschen Medien zu nehmen. Alles Vorgänge, die anhand der Unterlagen in den Stasi-Archiven zu recherchieren wären. Das erklärt, warum die Bonner Politiker darauf bestehen, die Akten über westdeutsche Geheimdienste aus den Archiven zu entfernen.

Die Angst vor peinlichen Enthüllungen ist derzeit auch deutlich beim Bonner Untersuchungsausschuß zum ehemaligen DDR-Chefdevisenbeschaffer Schalck-Golodkowski zu sehen, der anhand von Stasi-Unterlagen die unseligen Verbindung ranghoher Politiker zu den ehemals Mächtigen in der DDR offenlegt.

Ob die Offenlegung des Stasi- Nachlasses tatsächlich „den gesellschaftlichen Heilungsprozeß“ (Gauck) einleitet oder ob vielmehr, wie der Schriftsteller Jürgen Fuchs befürchtet, damit ein „Auschwitz in den Seelen“ droht, ist schwer zu prophezeien. Sicher ist nur: An der Offenlegung führt kein Weg vorbei. Es ist nicht nur für Deutschland zum ersten Mal die Chance, das Erbe einer Diktatur abzutragen. Wolfgang Gast