Berlin oder Die Angst vor Posemuckel

Nach Rot-Grün regiert nun Provinzialität in Berlin. Die große Koalition von SPD und CDU bröckelt, die Bevölkerung ist unzufrieden. Die neue Hauptstadt droht im Sumpfgebiet von Posemuckel zu versinken.  ■ VON DIETER RULFF

Aufgeregtheiten und Streit“ diagnostizierte dieser Tage Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen der eigenen Senatsmannschaft. Er rechne jedoch damit, daß nach den Landesparteitagen von CDU und SPD Ende November „wieder mehr Ruhe in die Koalition einkehrt“. Die Hoffnung des Regierenden auf die probaten Selbstheilungskräfte der Parteipolitik könnten allerdings enttäuscht werden. Auch wenn das inszenierte Koalitionsgezänk der letzten Wochen auf die Gemütslage der beiden großen Parteien kurzfristig therapeutische Wirkung zeigen sollte, so bröckelt es doch wahrnehmbar im Regierungsbündnis. Das Image des Senats ist schlecht, und die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist unverkennbar. Die große Koalition, so hatte Diepgen noch jüngst ins Gedächtnis gerufen, „ist zusammengekommen, um die wichtigen Themen der Stadt zu bewältigen“. Doch davon ist derzeit nur noch wenig zu spüren. Der Senat verfällt wieder in die, aus Westberliner Vorzeiten sattsam bekannten, kleinteiligen Politikmuster. Verkehrssenator Haase (CDU) sorgt sich, zum Verdruß der SPD, um freie Fahrt auf Tempo-30-Straßen, Innensenator Heckelmann (CDU-nah) positioniert die eigenen Seilschaften bei der Polizei, Bausenator Nagel (SPD) sinniert über die Durchfahrbarkeit des Brandenburger Tores und der gesamte Senat engagiert sich wochenlang beim Umsturz des Lenindenkmals. So hangelt sich die große Koalition von einem Budenzauber zum nächsten, während ihr „die wichtigen Themen der Stadt“ abgenommen werden.

Hauptstadt bis an die Grenzen der Zumutung

Als ihre wesentliche Aufgabe schrieb sich die große Koalition zu Beginn der Legislaturperiode die Wiedererlangung der Hauptstadtfunktionen auf ihre Fahnen. Jahrzehntelang hatte Berlin aus seiner Rolle als geteilte Stadt Identität und Subventionen gezogen. Wurde der Westen der Stadt als „Tor zur freien Welt“ verteidigt, diente die „Hauptstadt der DDR“ als sozialistische Vorzeigekommune. Als mit dem Fall der Mauer die Regierung drüben und die Berlinhilfe hüben verschwanden, offenbarte sich erschreckend schnell die strukturelle Unfähigkeit Berlins, aus eigener Kraft zu leben. Die Rolle als Hauptstadt des vereinten Deutschlands bot sich förmlich als neue identitätsstiftende Visitenkarte an. Dem letzten Oberbürgermeister Ostberlins, Tino Schwierzina, war sie gar „das wichtigste Erbe, das die DDR in die Gemeinsamkeit einbringt“. Sein gesamtberliner Nachfolger Diepgen wußte handlichere Argumente für das große Anliegen ins Feld zu führen. Ihn drückte die Sorge, daß die Stadt ohne Regierungsfunktion zum erheblich ärmeren, einflußloseren Osten gezählt werden müsse. Das CDU/SPD-Bündnis erhoffte sich bereits von seiner Existenz heilsame Wirkung auf die Bonner Meinungsträger, die bis dahin von einem rot- grünen Senat und der Vision einer „Hauptstadt Kreuzberg“ eher verschreckt schienen. Die Juni-Abstimmung im Bundestag geriet zur Zitterpartie, die große Koalition schrammte nur knapp an ihrer ersten großen Sinnkrise vorbei. Seitdem ist man um die Gunst der Bonner Ministerialen bemüht, will man sie doch für einen möglichst frühen Umzugstermin gewinnen. Fürs Regierungsviertel werden 220 Hektar in bester Innenstadtlage bereitgehalten. Um die Bezirke von der lästigen Mitsprache bei der Planung fernzuhalten, wird eigens für die Regierungsbauten ein Beschleunigungsgesetz konzipiert. Trotz drängender Wohnungsnot in der Stadt, ist daran gedacht, die freiwerdenden Domizile der abziehenden Alliierten den Bonner Beamten vorzubehalten. In Bonn hat derlei Anbiederei bislang nicht die gewünschte Eile, sondern ein schier unstillbares Verlangen nach mehr befördert. Die ministerialen Bauplaner hatten gar ein Auge auf das historische Nikolai-Viertel und das Alte Stadthaus, Sitz des letzten Ministerpräsidenten der DDR, geworfen. In ihrem festen Zugriff befindet sich bereits die Prachtallee Unter den Linden, die die Landesregierung preisgab, obwohl Bausenator Nagel hier die „zentrale zivile Achse“ der Stadt ausmacht und deshalb in der Flächenbereitstellung „kein Präjudiz für eine spätere exklusive Nutzung durch den Bund“ sehen will. Bei den Bonner Planern hinterläßt diese Einschränkung genauso wenig Eindruck wie die hohlbrüstige Warnung des Stadtentwicklungssenators Hassemer, die Stadt könne „keinem erlauben, (...) sich mit Ellenbogen dort breitzumachen.“ Der Ellenbogen ist nicht das einzige Körpermaß, das an den zukünftigen Regierungs- und Parlamentssitz angelegt wird. „Fußläufig“ soll, nach des Kanzlers Willen, das Regierungsgeschäft zukünftig erledigt werden. Auch wenn er gar nicht mehr von Berlin aus die Geschicke dieses unseres Volkes lenken wird, ist Kohls Wort den Planern Befehl. „Parlament der kurzen Wege“ nennt sich euphemistisch die Agglomeration von Neubauten, die im Spreebogen, nördlich des Reichstages hochgezogen wird. Zurückhaltung legen Berlins Politiker an den Tag, wenn die Standorte der zentralen Bauten festgelegt werden. Wurde nach wochenlanger Feinabstimmung der ehemalige Platz der Kroll- Oper für den Bundesrat reserviert, meldete dieser Tage der Bundeskanzler Interesse an. Bislang wurde er noch nicht auf seinen Platz verwiesen. Der liegt direkt am Spreebogen, dort, wo Kohl eigentlich sein Deutsches Historisches Museum errichten wollte. Doch bislang getraute sich noch kein Berliner Politiker, ihm das Vorhaben auszureden.

Diepgens Hoffnung, bereits in vier Jahren den Bundestag als Vorhut vom Rhein an den Ufern der Spree begrüßen zu können, scheint trügerisch. In der alten Bundeshauptstadt wirkt das verbeamtete Trägheitsmoment. Derweil hält sich in der neuen die Begeisterung in Grenzen. Man fürchtet die potenzierende Wirkung, die die anrückenden Beamtenheerscharen auf die grassierende Wohnungsnot und das Verkehrschaos in der Stadt haben. Der Senat versucht den aus ihrer Bouletten-Gemütlichkeit aufgeschreckten Berlinern die Polit-Megapolis mit der Aussicht schmackhaft zu machen, zukünftig statt einer Berlin- eine Hauptstadtzulage zu kassieren. Zudem weiß Eberhard Diepgen, daß man dem Berliner „auch einiges zumuten“ muß, „wenn wir die innere Einheit der Stadt haben wollen“. Und das heißt „in großen Maßstäben denken“.

Die will der Senat ebenfalls angelegt wissen, wenn es um sein zweites großes Projekt geht, die Olympischen Spiele im Jahr 2000. Auch auf diesem Feld läßt die Bevölkerung die gewünschte Begeisterung vermissen. Konnte man die Gründe dafür ehedem noch in der anti-olympischen Mißmacherei eines alternativen Sportstaatssekretärs ausmachen, so mangelt es neuerdings an der Einsichtsfähigkeit der Berliner. Es muß, so sorgte sich der Regierende Bürgermeister, „die Erkenntnis noch weiter wachsen, daß Olympia ein stadtdienliches Konzept“ ist. Bislang wächst freilich eher der Verdruß darüber, daß Olympia Berlin 2000 seinen Protagonisten vorrangig zur Selbstdarstellung und Selbstbedienung dient. Statt medaillenreifer Leistungen, werden Pleiten, Pech und Pannen geboten. Ein modernes unternehmerisches Konzept sollte mit der Olympia-GmbH verwirklicht werden. Der Werbemanager Lutz Grüttke schien der passende Mann, um den Laden in Schwung zu bringen. Er verzeichnete auch einige Erfolge in der Sponsorenakquise, doch paßten seine Geschäftsusancen nicht in ein landeseigenes Unternehmen. Wegen eines umstrittenen Werbevertrages mußte er den Hut nehmen, mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft in dem Vorgang. Der Aufsichtsrat, von Grüttkes Manchester-Manieren abgeschreckt, erkor zu seinem Nachfolger einen wackeren Senatsrat, der seitdem peinlich auf die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Gepflogenheiten achtet. Der personelle Fehlgriff wird dem Aufsichtsratsvorsitzenden Eberhard Diepgen angelastet, hatte der doch Grüttke als seinen Mann eingeführt. Als Strippenzieher im Hintergrund, bei Grüttkes Ernennung wie bei seinem unrühmlichen Ende, hatte sich allerdings das NOK umgetrieben. Die Altherrenmannschaft um Willi Daume ging denn auch gestärkt aus den Konflikten hervor. Ohne sie läuft nun nichts mehr bei Berlins Olympia-Bewerbung.

Potsdamer Platz oder Wem gehört die Stadt?

Einflußverlust droht dem Senat auch auf einem zentralen Feld der Stadtpolitik. Auf dem 68.000 Quadratmeter großen Gelände am Potsdamer Platz tobt seit Wochen der Streit um das zukünftige Gesicht Berlins. Der aus dem städtebaulichen Wettbewerb als Sieger hervorgegangene Entwurf der Münchner Architekten Hilmer und Sattler fand vor den Kritikern keine Gnade. Doch was vordergründig als Expertengerangel um Traufhöhe oder Hochhausbebauung einherkam, hat sich mittlerweile auf die Frage zugespitzt: Wem gehört die Stadt? Wird der Potsdamer Platz zentraler Ort Berlins oder Ort der Unternehmenszentralen? Die Investoren Daimler-Benz, Sony und Hertie haben den Senat geschuriegelt. „An symbolischer Stelle“ würden „die antikapitalistischen Spielchen jener eingemauerten Idylle weitergetrieben“. Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer, dem es noch vor kurzem darauf ankam, „den Tiger zu reiten“, steht unter Druck, seit der Tiger fauchte. Der Berliner Daimler-Vertreter, Peter-Hans Keilbach, will die Bauvorgaben von Hilmer und Sattler „nicht verantworten“, sein Kollege von Sony, Rainer Wagner, prophezeite Berlin eine Blamage, sollte der Investoren-Entwurf ignoriert werden. Zwar wurde mittlerweile ein Konsens verkündet, dessen Haltbarkeit wird jedoch allseits angezweifelt. Hinter den Türen wird ein Weg gesucht, der es den Konzernen ermöglicht, ihre „identitätsstiftende Visitenkarte“ am Potsdamer Platz doch noch zu hinterlassen und dem Senat einen Gesichtsverlust zu ersparen. Bislang tönt Volker Hassemer noch, daß zur „Kleiderordnung“ die unbedingte Entscheidungskompetenz der öffentlichen Hand und „die Gültigkeit der Wettbewerbsergebnisse“ gehöre, doch Eberhard Diepgen relativiert bereits, daß das Wettbewerbsergebnis zwar Gewicht habe, die Entscheidung aber bei der Politik liege. Und wohin die tendiert, daran ließ er wenig Zweifel. „Wir haben auch“, so betonte der Bürgermeister, „ein Interesse an den Investoren.“

Den Investoren ist dieses Interesse der Politik nicht verborgen geblieben. Edzard Reuters Spruch, es gehe in Berlin „nicht um Posemuckel“, war weniger als „kritische Liebeserklärung an Berlin“ (Diepgen) gemeint. Schließlich machte der zukünftige erste Unternehmer am Orte einer schwachbrüstigen Landesregierung klar, welcher Stellenwert der Wirtschaft in der Metropole Berlin zukommen soll. Die Politik reagierte prompt und kopflos und unterwarf, in einer eigens dafür anberaumten Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses, Reuters Rede einer eingehenden Textanalyse. Die Landesregierung war an einer empfindlichen Stelle getroffen, denn sie hatte den Anwürfen des Konzernchefs keine eigenen Positionen entgegenzusetzen.

Kein selbstbewußter Umgang mit Firmen

Als sei Posemuckel ein Sumpfgebiet, versinkt die Landespolitik in dem Maße darin, in dem sie versucht, sich von diesem Image zu lösen. Die Auseinandersetzung um den Abriß des Lenindenkmals und die Durchfahrbarkeit des Brandenburger Tores sind Beispiele einer an Provinzialität kaum zu überbietenden Stadtpolitik. Da beschäftigt sich der Senat monatelang mit Problemen, die längst auf der Ebene der Referatsleiter hätten gelöst werden können. Er ließ die Schilder von U-Bahnhöfen demontieren, weil diese so vergangenheitsbelastete Namen wie „Nordbahnhof“ oder „Frankfurter Tor“ trugen. Eine Fortsetzung der Provinzposse ist garantiert, denn noch müssen Dutzende von Straßen umbenannt werden. So profiliert sich die Landesregierung in diesen selbstgewählten Konfliktfeldern, so farblos agiert sie, wenn es ans Eingemachte geht. Jahrzehntelang daran gewöhnt, investitionswillige Firmen mit den diversen Steuerpräferenzen in das Subventionsbiotop Westberlin zu locken, tut sich der Senat noch schwer im selbstbewußten Umgang mit Unternehmen. Dem Konflikt am Potsdamer Platz kommt beispielhafte Bedeutung zu, er hat für künftige Investoren wie für das Selbstwertgefühl der Stadt Signalwirkung. Denn was sich dort unter den Augen der Öffentlichkeit vollzieht, spielt sich in Ostberlin, an der Friedrichstraße wie in Marzahn, hundertfach hinter verschlossenen Türen ab. Dort wird im wesentlichen das neue Berlin konzipiert. In einem eigens dafür geschaffenen Koordinierungsgremium werden zwischen Treuhand, Senat und Investoren Grundstücke gehandelt, ohne daß eine wesentliche öffentliche Diskussion oder gar parlamentarische Kontrolle stattfände. Es existiert noch nicht einmal eine verbindliche Bebauungsgrundlage in Form eines Flächennutzungsplanes.

Seit dem Fall der Mauer wurden landeseigene Grundstücke verscherbelt, als seien die Ressourcen unerschöpflich. Die diversen Niedrigpreisabschlüsse wurden mit dem Ansinnen begründet, keine Spekulationsgewinne erzielen zu wollen. Der Grundstücksmarkt hat diese hehre Haltung bislang kaum honoriert, die Margen kletterten in den letzten Monaten rasant nach oben. Galten in Spitzenlagen 1990 noch Bodenpreise von bis zu 12.000 Mark pro Quadratmeter, so werden dafür mittlerweile bis zu 20.000 Mark gezahlt. Wegen dieser „hysterisch zu nennenden Spekulationswelle“, forderte der SPD-Politiker Joachim Niklas eine Änderung der Grundstückspolitik. Seine Partei hat mittlerweile die Kehrtwende vollzogen. Zukünftig soll, so ein Beschluß der Fraktion, der reichhaltige landeseigene Grundbesitz nur noch in Erbbaurecht vergeben werden. Damit will man Spekulationsgewinne ausschließen. Doch droht um diese Neuorientierung der Koalitionspolitik Streit, denn die CDU hat signalisiert, daß sie den politischen Richtungswechsel nicht mitvollziehen will. Sie fürchtet, daß Investoren abgeschreckt werden. Auf Unternehmensansiedlungen ist der Senat jedoch angewiesen, will er den drohenden Bankrott des Landes abwenden. Das Loch in der Haushaltskasse beträgt 1992 cirka sechs Milliarden Mark, die Tendenz für die kommenden Jahre ist steigend. Die zukünftige Rolle als Regierungs- und Parlamentssitz zahlt sich noch nicht aus. Bleibt dem Senat die Hoffnung auf vermehrte Steuereinnahmen und eine rigide Sparpolitik, die vor allem bei der Kinderbetreuung und in der Erziehung den Rotstift ansetzen will.