Das Volk merkt vom Aufschwung nichts

Ungarns Wirtschaft gilt als Vorbild für Osteuropa — auch wenn das Tal der Tränen noch bevorsteht  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Im hektischen Gedränge des Budapester Ostbahnhofs wirkt die alte Frau verloren. Sie steht neben einem kleinen Blumenladen, in der ausgestreckten Hand einen Strauß unansehnlicher Herbstastern, und wartet auf Käufer. Wie ihr ergeht es tagtäglich Zehntausenden von Alten in Ungarn, deren Rente zum Leben nicht ausreicht und die deshalb die Trottoirs belagern und immer irgend etwas verkaufen wollen: ein paar mickrige Möhren, ein Glas selbsteingekochte Konfitüre oder eine handgestickte Tischdecke.

Sie — und mit ihnen der größte Teil der Bevölkerung — haben vom wirtschaftlichen Aufschwung in Ungarn bis jetzt nichts gemerkt, es sei denn den ersten Rolls Royce mit ungarischem Besitzer, der, wo immer er in Budapest auftaucht, bewundernde Blicke auf sich zieht. Dennoch werden die obligatorischen Negativschlagzeilen in den letzten Wochen von verhaltenem, aber dennoch deutlichem Optimismus übertönt. Das streng antiinflationäre Regierungsprogramm trägt erste Früchte; die in ganz Osteuropa niedrigste Inflationsrate ist nicht, wie erwartet, gestiegen, sondern hat sich bei etwa 36 Prozent eingepegelt und wird demnächst wohl sinken. Zwar ist seit dem Zusammenbruch des RGW- Marktes der Osthandel um 60 Prozent geschrumpft; die Westexporte aber konnten in diesem Jahr um 30 Prozent gesteigert werden, und das Loch in der Handelsbilanz verschwindet langsam. Schließlich: die Zahlungsbilanz weist statt eines geplanten Defizits sogar ein Plus von 300 Millionen Dollar auf, und der Schuldenberg von 20 Milliarden US- Dollar wächst nicht weiter.

Finanzminister Mihély Kupa gibt sich denn auch ebenso stolz wie erleichtert: „Wir konnten dem Westen Beweise erbringen, daß Ungarn ein Land ist, das seine Schulden pünktlich tilgt, in dem sich Investitionen auszahlen und in dem talentierte Menschen arbeiten.“

Tatsächlich ist Ungarn zur Zeit das Musterland im Ex-Ostblock. Das bescheinigen OECD, Weltbank und auch der Internationale Währungsfonds (IWF), der in seinem Halbjahreszeugnis „Zufriedenheit und Zuversicht“ über die Entwicklung äußerte. Nationalbankpräsident György Surányi schwärmte nach seiner Rückkehr: Er nehme seit 1986 an IWF- und Weltbank-Sitzungen teil, aber noch nie seien die Ergebnisse der ungarischen Wirtschaftspolitik mit so eindeutiger Anerkennung quittiert worden wie im Oktober in Bangkok. Die Kehrseite der für ungarische Verhältnisse ausgesprochen positiven Bilanz des letzten halben Jahres zeigt sich in einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen, wie auch György Surányi zugibt. Dabei lebt schon seit Jahren etwa ein Drittel der zehn Millionen Ungarn am Rande oder gar unter dem Existenzminimum. Der Durchschnittslohn liegt derzeit zwischen 10.000 und 15.000 Forint (240 bis 360 DM), während die zu 90 Prozent freigegebenen Preise für Konsumgüter durchaus westliches Niveau erreichen. Dem nach unabhängigen Expertenschätzungen auf 8.000 bis 9.000 Forint angesetzten Existenzminumum stehen Arbeitslosenunterstützungen und Renten in Höhe von 6.000 bis 7.000 Forint pro Monat gegenüber. Viele Ungarn können sich nur mit Zweit- oder Drittjobs über Wasser halten; zwölf bis 16 Stunden am Tag zu arbeiten, ist durchaus üblich. Eine der größten Tageszeitungen des Landes, das Ex- Parteiblatt 'Nápszabadság‘, hat daher für das postkommunistische Ungarn den Begriff der Armutsdemokratie geprägt. Das Tal der Tränen steht freilich noch bevor, dann nämlich, wenn die verschleppte Privatisierung beginnen wird. Noch bevor sie überhaupt in Gang gekommen ist, sind allein aufgrund gestrichener Subventionen schon 220.000 Menschen arbeitslos, 400.000 könnten es am Jahresende sein. Verzögert wird die Privatisierung vor allem dadurch, daß eine starke national-konservative Fraktion innerhalb der Regierungskoalition Druck gegen den „Ausverkauf ungarischer Werte“ macht. Zudem tut sich in Sachen Wirtschaftsgesetzgebung nur wenig. So gibt es bis heute kein Privatisierungsgesetz. Profitiert haben von dieser Politik ehemalige Parteifunktionäre, die das Chaos ausnutzten, indem sie Staatsbetriebe in Privatfirmen umwandelten, sie zum Teil zu Spottpreisen an westliche Interessenten verschacherten und sich selbst als neue Manager einsetzten. Erst als die Kritik an solch dubiosen Praktiken unüberhörbar wurde, schuf die Regierung vergangenen Herbst die Staatliche Vermögensagentur AVO; eine Art Treuhand, die jedoch die Privatisierung eher überwacht, denn eigeninitiativ betreibt — und das noch nicht einmal besonders effektiv. Zahlen über den Stand der Privatisierung gibt es bis jetzt kaum. Außenwirtschaftsminister Béla Kádár schätzt, daß sich etwa 15 Prozent des gesamten Unternehmensvermögens in privaten Händen befinden; bis 1994 sollen es mindestens 50 Prozent sein. Doch vor allem potentielle westliche Investoren werden vom Chaos in Eigentums- und Steuerfragen abgeschreckt. So machte jüngst die Privatisierung einer Hotelkette negative Schlagzeilen. Der Deal wurde wieder abgeblasen, nachdem er zuvor von der AVO gebilligt worden war und das neue Unternehmen gerade ins Handelsregister eingetragen werden sollte. Grund: die Regierung bastelt an einer neuen Steuerverordnung herum. Und während immer mehr unrentable Staatsbetriebe dicht gemacht werden, weil sich keine Investoren finden, beklagen die ungarischen Medien, daß die Bevölkerung in Apathie versinke. Wohl deshalb kann Finanzminister Kupa behaupten, daß sie sein bester Verbündeter sei.