Sturm im Moabiter Wasserglas

Im Mauerprozeß flippt ein Verteidiger aus/ Das Gericht bewahrt die vorschriftsmäßige Coolness  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Bereits nach einer Stunde kam es gestern zum Eklat im Prozeß um den Tod von Chris Gueffroy. Verteidiger Henning Spangenberg wollte von dem Zeugen Jörg-Peter Berg wissen, für welches Unternehmen er als „selbständiger Gewerbetreibender“ arbeitet. Der Ex-Stasi-Major bat ihn jedoch darum, diese Frage zurückzunehmen. Spangenberg konterte: „Das Recht haben Sie nicht.“ Daraufhin erklärte Richter Theodor Seidel, er lasse die Bitte des Zeugen Berg zu. Spangenberg explodierte vor Wut: Er schrie mit hochrotem Kopf, schlug mehrmals mit geballter Faust auf den Tisch, schimpfte von „Unverschämtheit“.

Seidel hält es für nicht prozeßrelevant, daß ein Zeuge seinen genauen Beruf nennt; auch dann nicht, wenn er bei der Stasi war. Jeder Zeuge könne die Auskunft verweigern, wenn es um die eigenen Persönlichkeitsrechte gehe. Und über die weiß Seidel Bescheid: 1963 schrieb er seine Doktorarbeit zum Thema „Das Recht des Beschuldigten auf rechtliches Gehör im Strafprozeß“.

Dem Gezänk im Gerichtssaal folgte ein inzwischen bekannter Vorgang: Spangenberg lehnte den Richter erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Diesmal verwarf das Gericht diesen Antrag schon nach zehnminütiger Beratung. Eine Antwort erhielt Spangenberg dennoch: Berg besitzt einen Großhandel für Eiscreme und Tiefkühlkost.

Die Verteidigung hat mit ihren Befangenheitsanträgen kein Glück. Erst am Montag hatte Rechtsanwalt Erich Buchholz, dessen Mandant Ingo Heinrich den tödlichen Schuß auf Chris Gueffroy abgegeben haben soll, erneut das Gericht für befangen erklärt. Die Erklärung Seidels zu seiner Unterstützung einer Fluchthilfeorganisation Anfang der 60er Jahre habe nicht alle Zweifel beseitigen können. Buchholz sagte, der Vorsitzende Richter habe das gemacht, was die Grenzsoldaten qua Auftrag zu verhindern hatten. Allein die Länge der Hauptverhandlung beweise, so der Ostberliner Strafrechtsprofessor Buchholz, wie „unvollkommen, einseitig und oberflächlich das Ermittlungsverfahren war“. Gestern lehnte das Gericht diesen Befangenheitsantrag wegen Unzulässigkeit erneut ab.

Eine Vorstellung vom Alltag der Grenzsoldaten hatte bereits am Montag Bernd Berger (36) vermittelt. Er war von 1988 bis 1990 Mitarbeiter der militärischen Abwehr, die direkt dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterstand. Sein Job war es, Fahnenflucht zu verhindern und „Stimmungs- und Meinungsbilder“ innerhalb der Truppe zu erstellen. Im Klartext hieß das: Berger hatte seine Spitzel — seinen Angaben zufolge tummelten sich unter 90 Grenzsoldaten mindestens sechs Stasi-Mitarbeiter —, und diese petzten ihm dann, wenn ein Soldat mal laut nicht so dachte wie erwartet. Auch persönliche Briefe wurden von Berger mitunter geöffnet. Berger bestätigte auch, daß die Stasi ebenfalls im Fall Gueffroy/Gaudian ermittelt hat. Sie sicherte Fußspuren, Geschoßhülsen und machte Fotos und Skizzen von dem „Ereignisort“. Mindestens 20 Seiten umfaßte diese Ermittlungsakte der Stasi; sechs Kopien gingen an MfS-Dienststellen. Weil die Verteidiger sich von diesen Stasi-Unterlagen entlastendes Material für ihren Mandanten Heinrich erhoffen, erwarten sie von Gericht und Staatsanwalt, dieses „zentrale Beweismittel“ zu besorgen. Richter Seidel jedoch dämpfte zu große Erwartungen: „Noch nicht einmal der Militärstaatsanwalt der DDR hat eine einzige Spur von diesen Unterlagen.“