Frost der Form

■ Die Vagantenbühne spielt Jean Genets »Die Zofen«

Jean Genet, Verbrecher und Theatergenie, war ein wagemutiger Seiltänzer im Theaterzirkus seiner Zeit, und noch heute fordern seine Werke jedem, der sich mit ihnen zu beschäftigen traut, ein Höchstmaß an geistiger Selbstgefährdung ab. So wie der Akrobat im Zirkus zu kunstfertiger Vollendung gezwungen ist, um dem Tod die Stirn zu bieten, so muß der Dichter umgekehrt sich ganz dem Tod als Thema überlassen, um zur künstlerischen Vollendung zu gelangen.

Ästhetische Schönheit wird erst durch die Gefährdung des vorgeführten Lebens legitim. Gleich heiligen Ritualen zelebrieren die Stücke Genets den Tod und setzen die Figuren der überpointierten Anpassung von Extremsituationen aus, um der Leere der prosaischen Welt noch einmal eine poetische Revolution abzutrotzen.

Schon lange planen Die Zofen in Genets gleichnamigem Stück die Ermordung ihrer gnädigen Frau. Heimlich spielen sie das Mörderspiel mit ritueller Lust und vermischen Domestikenrebellion mit schwesterlicher Haßliebe. Claire steigt in das Kostüm der Herrin und reizt — als Herrin und als Schwester — so lange zur Weißglut und zum Würgegriff. Doch ein Wecker beendet — wie gewohnt — das Ritual abrupt und kündigt das baldige Kommen der Herrin an.

Diesmal aber droht Entlarvung: Der Geliebte der gnädigen Frau, den die haßerfüllten Zofen mit anonymen Briefen hinter Gitter brachten, ist soeben freigelassen worden; endlich wird es nötig, das realitätsgewöhnte Ritual Wirklichkeit werden zu lassen. Ein vergifteter Tee soll die Herrin um die Ecke bringen. Die aber will das tückisch gereichte Getränk partout nicht trinken und eilt dem befreiten Geliebten entgegen. Zurück bleiben zwei Entmutigte, die ihr Ritual nur noch zur schönen Selbstvernichtung steigern können: Claire schlüpft erneut ins Kleid und trinkt den selbstgebrauten Schierlingsbecher.

In der Inszenierung von Burkhard Meise in der Vaganten Bühne fällt jedoch nach dem finalen Schluck die falsche Zofe um: Was wie ein billiger Schlußgag daherkommt, ist die konsequente Folge logischer (Theater)Vernunft, die für schwarze Magie und unheilvolle Mysterien keinen Platz mehr findet. Statt Genets heilige Rituale zu zelebrieren, betreibt Meise mathematisch gezirkelte Gedankenspiele, die um Rollenspiel und intellektuelle Späße kreisen.

Schon wenn der gemütlich-rote Vorhang sich öffnet, fällt der Blick auf eine sauber-klare Szenerie, die jeden Schwulst vermeidet. Und doch läßt sich das verwirrender kaum denken. Die Wirklichkeit wird schwer verortbar: Wir sehen reale Dinge, vier offene Kleiderschränke, einen Stuhl, eine Schmuckschatulle, einen Menschen — doch alles wirkt nur halb und ist häufig auch nur halb zu sehen. Der Raum narrt die Orientierung, so wie es in sich verschachtelte Spiegel tun.

Die Bühne, von Oliver Brendel eingerichtet, suggeriert ein merkwürdiges Spiegelkabinett, in dem die Zofen sich verlaufen. Deren Labyrinth aber ist pure Fiktion: Der Theaterraum zitiert sich selbst. Den Hintergrund beschließt der gleiche rote Vorhang, der vorne sich geöffnet hat; die leeren Kleiderschränke ragen an den Seiten in den Raum, als wären sie Theatergassen und auch die Zofen selber wirken nur wie ausgedacht. Gemäß der Vorstellung des Autors werden sie von Männern in Frauenkostümen gespielt.

Dem nüchternen, uneitlen Spiel der Darsteller (Oliver Rohrbeck und Peter Flechtner) ist es zu danken, daß daraus nicht sattsam bekannte Tuntigkeit geboren wird: das verdrehte Geschlecht dient keiner selbstverliebten Schwulenoper, sondern allein der Abstraktion — die Rollendistanz bleibt physisch sichtbar.

Matthias Gebhard allerdings gerät der zentrale Auftritt seiner gnädigen Frau zur schrillen Transi-Nummer. Im geschmacklosen Kleid und mit Schnauzer und Herrenarmbanduhr mischen sich allein bei ihm die männlichen und weiblichen Elemente zum schwülstigen Klischeewitz, den er allzu gerne zum sinnlichen Kontrapunkt der bedächtigen Gedankenlogik hochspielt.

Ansonsten verweigert die Darstellung mit gnadenloser Gedankenpräzision jede Illusion und setzt Zeichen über Zeichen. Über Gegenstände wird gesprochen, die nie zu sehen sind; die Bühne wird minutenlang alleingelassen, während die Schauspieler im Off sich tummeln; wenn einer sagt: »Mach das Licht aus!« wird es von alleine Nacht und der Dialog geht im Dunkeln traurig weiter. Das volle Bild wird stets verweigert: Wirklichkeit bleibt außen vor. Ein die Gefühle bewußt abtötender Frost der Formen regiert die Szenen und macht das Publikum arg frösteln. Einem Großteil der biederen Vaganten-Besucher ist das zu schematisch und zu fern, vielleicht auch nicht genügend degoutant: Dem Ungewohnten nicht ergeben, ziehen sie vorzeitig ab, plaudern heftig oder versinken in dumpfer Besinnungslosigkeit.

Solch ausgeklügeltes Experiment wird am falschen Ort gegeben. Darum kann es auch nur halb gelingen: Wenn das Publikum sich weigert, seine intellektuelle Lust als Spiegel an die Bühnenhälfte anzulegen, wird das reflexreiche Wechselspiel selbstgefährdend angeboten — wer sie jedoch nicht sucht, wird sie kaum finden können. baal

Nächste Vorstellungen: heute, morgen und 19.11. jeweils 20 Uhr, Vaganten Bühne, Kantstraße 12a